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Donnerstag, 13 Mai 2021 11:59

Webtechnologie fertigt individuelle Implantate

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Wissenschaftler der Technischen Universität Dresden entwickelten eine integrale Fertigungstechnologie zur Herstellung komplexer patientenspezifischer Stentgrafts mittels Jacquard-Spulenschützen-Webtechnologie.

Herausforderung patientenindividuelle Implantate

Der demografische Wandel der Gesellschaft führt zu einem hohen Anteil von Personen mit behandlungsbedürftigen Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems. Kardiovaskuläre Erkrankungen sind in Deutschland mit über 340 000 Fällen bereits heute die häufigste Todesursache [1]. Die Inzidenz von Aortenaneurysmen, also Aussackungen der Hauptschlagader führt zu Fallzahlen von ca. 364 000 allein in den OECD Ländern [2]. Zur Behandlung solcher Aneurysmen werden sogenannte Stentgrafts eingesetzt, die den natürlichen Aortenverlauf wiederherstellen und das ausgesackte Gefäß somit ersetzen (Graftfunktion) und den Blutfluss durch Offenhalten mithilfe von Stentstrukturen gewährleisten (Stentfunktion). Derzeit erfolgt die Herstellung von Gefäßprothesen auf Basis maschinell gewebter Schläuche. In aufwendiger Handarbeit werden anschließend alle notwendigen Schlauchmodifikationen schnitt- und nähtechnisch integriert. Diese Konfektionierung beinhaltet u. a. Fensterungen, Durchmesseränderungen über die Länge, unterschiedlich lange Abzweigungen und Längenanpassungen. Abschließend erfolgt das vollständig manuelle und extrem zeitintensive Aufnähen der einzelnen Stents.

Am Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik der Technischen Universität Dresden (ITM) wurde daher im Rahmen eines von der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen (AiF) geförderten Projekts eine CAD-gestützte, integrale Fertigungstechnologie zur Herstellung komplexer patienten-spezifischer Stentgrafts mittels Jacquard-Spulenschützen-Webtechnologie entwickelt [3]. Die flexible Technologie bietet Lösungen für die Integration von Formgedächtnismaterialien, wie unterschiedlich vorgeformte Nitinoldrähte, ohne dass zusätzliches manuelles Konfektionieren notwendig ist. Auf Basis der Entwicklungen können Schlauchgewebe mit integrierten vorgeformten Nitinol-Stentringen mit variablen, über die Implantatlänge unterschiedlichen Durchmessern, Fensterungen und Abzweigungen realisiert werden.

Maßgeschneiderte Stentgrafts flexibel generiert

Abb. 1: Überführung von Computertomographie-Datensätzen in ein 3D-CAD-Modell zur Ableitung von flächigen  Bindungsbereichen für die  webtechnische UmsetzungAbb. 1: Überführung von Computertomographie-Datensätzen in ein 3D-CAD-Modell zur Ableitung von flächigen Bindungsbereichen für die webtechnische UmsetzungFür die individuelle Maßanfertigung wurde eine CAE-gestützte Prozesskette (siehe Abb. 1) erarbeitet, die eine Überführung von Patientendaten in parametrisierbare 3D-CAD-Modelle und anschließend in Bindungspatronen für Webmaschinen ermöglicht.

Im ersten Schritt werden die Datensätze aus der Computertomographie, die im standardisierten DICOM Format (Digital Imaging and Communications in Medicine) vorliegen, analysiert und verarbeitet. Mithilfe von am ITM entwickelten skriptbasierten bildverarbeitenden Software-Auswertetools werden aus diesen Patientendaten fertigungstechnische Parameter, wie Durchmesser und Längen sowie Positionen von Öffnungen oder Abzweigungen, ermittelt. Diese Daten werden automatisch zu einem 3D-CAD-Modell aufgebaut, das eine Anpassung der einzelnen Parameter zulässt, beispielsweise die patientenspezifische Geometrie des Implantats. Mittels softwaregestützter Algorithmen wird die 3D-Geometrie anschließend in eine 2D-Abbildung mit farblicher Codierung transferiert (Abb. 1, rechts). Diese flächige Bindungsdarstellung weist jeweils die Bereiche für Fensterungen (z. B. für abgehende Blutgefäße in Rot), für Abzweigungen (z. B. die Bifurkation der Aorta, ebenfalls in Rot), für die Beinarterien (Türkis bzw. Grün) oder für die Einbringung der Nitinol-Stentringe (Blau) getrennt aus. Zur industriellen Überführung insbesondere in KMU kann die Umsetzung der automatisierten Prozesskette in den interessierten Unternehmen mit Unterstützung des ITM erfolgen.

Strukturausbildung für die integrale Fertigung

Abb. 2: Schematische Darstellung der Bindungs- bereiche mit Lagenwechsel (Schlauchgewebe: hellblau; umlaufendende Taschen: dunkelblau;  Nitinolringe: gelb), Schnittdarstellung der  dazugehörigen Gewebebindungen sowie  CAD-Modell mit eingebundenem NitinolringAbb. 2: Schematische Darstellung der Bindungs- bereiche mit Lagenwechsel (Schlauchgewebe: hellblau; umlaufendende Taschen: dunkelblau; Nitinolringe: gelb), Schnittdarstellung der dazugehörigen Gewebebindungen sowie CAD-Modell mit eingebundenem NitinolringZur Integration von vorgeformten Nitinolringen in die Gewebe wurden die Stentgraftstrukturen als Schlauchgewebe mit integrierten umlaufenden Taschen konzipiert. Die Bindung des Schlauches besteht aus zwei ineinander gewebten Schläuchen. In den Bereichen, in denen der Nitinoldraht eingebunden ist, wird über einen Lagenwechsel der innere Schlauch außen weiter gewebt. Dadurch entsteht eine fest verbundene Tasche mit dem Hauptschlauch, die keine weitere Nachbearbeitung benötigt und vollständig geschlossen ist [4].

Abbildung 2 zeigt die dazugehörigen Bindungsbereiche und Fadenlagen sowie eine CAD Darstellung der aus diesen Bindungen resultierenden Struktur.

In einer Software für die webtechnische Bindungsentwicklung, z. B. DesignScope werden die unterschiedlichen Bindungen dann den jeweiligen Flächen des 2D-Farbbilds (siehe Abb. 1) zugeordnet und daraus die Steuerdatei für die Webmaschine erstellt.

Stentgrafts mittels Jacquard-Spulenschützen-Bandwebtechnologie

Zur Ausbildung von integral gefertigten Stentgrafts mit Hilfe der Spulenschützen-Bandwebtechnologie waren prozess- und materialbedingt spezifische Anpassungen der Webmaschine hinsichtlich Webfachgeometrie und Schützenplatte erforderlich. Zur schädigungsarmen Verarbeitung der sehr feinen Polyestergarne wurde die Webfachgeometrie deutlich verkleinert. Die Maschine wurde außerdem mit einem speziell für die Verarbeitung feiner Garne geeigneten Spulenschützen ausgestattet. Zur Fertigung der komplexen Stentgrafts wurde die Spulenschützen-Bandwebmaschine mit Jacquardeinrichtung um ein höhenverstellbares V Riet erweitert, das zur Fertigung von Schlauchstrukturen mit veränderlichem Durchmesser dient. Im Zuge der Integration des Rietes und der veränderten Kettdichten wurden weitere konstruktive Anpassungen im Hinblick auf die Jacquardmaschine durchgeführt, wie die Anpassung des Chorbrettes, das der Führung der Harnischschnüre oberhalb des Gewebes dient, oder des Federbodens zur Fixierung der Rückzugsfedern unterhalb des Gewebes.

Abb. 3: Stentgraft mit umlaufenden Nitinol-Stentstrukturen (links) und Stentgraftstruktur mit Nitinol-Stent, Bifurkation (Aufspaltung der Aorta in die Beinarterien), Fensterung (Nierenabgänge)  sowie unterschiedlichen Durchmessern über die  Länge, gefertigt in integraler Bauweise (rechts)  Abb. 3: Stentgraft mit umlaufenden Nitinol-Stentstrukturen (links) und Stentgraftstruktur mit Nitinol-Stent, Bifurkation (Aufspaltung der Aorta in die Beinarterien), Fensterung (Nierenabgänge) sowie unterschiedlichen Durchmessern über die Länge, gefertigt in integraler Bauweise (rechts) Im Ergebnis der bindungstechnischen und technologisch-konstruktiven Entwicklungen können komplexe Stentgraft-Schlauchgewebe mit variablen, über die Implantatlänge unterschiedlichen Durchmessern, Fensterungen und Abzweigungen in hoher Reproduzierbarkeit realisiert werden. Durch die Taschenkonstruktion können die vorgeformten Nitinol-Stentringe in der Offenfachposition ohne Schwierigkeiten eingelegt werden und somit eine integrale Fertigung der patientenindividuellen Implantate umgesetzt werden. Abbildung 3 zeigt Stentgrafts unterschiedlicher Komplexität, die auf Basis der Technologieentwicklungen erstmalig in integraler Bauweise auf Webmaschinen gefertigt wurden.

Die textilphysikalischen und strukturmechanischen Analysen der integral gefertigten Strukturen zeigen, dass in allen unterschiedlichen Teilbereichen homogene und gleichmäßige Gewebestrukturen realisiert werden können. Weiterhin können die Stentgrafts so kompaktiert werden, dass sie in Einführkatheter mit 6 mm Innendurchmesser (18 Charrière) eingebracht und ohne Strukturverzerrungen wieder entfaltet werden können. Somit ist die minimalinvasive Implantation des am ITM entwickelten Stentgrafts gewährleistet.

Im Hinblick auf die Zulassung von Stentgrafts werden spezifische Kennwerte gefordert. Diese umfassen beispielsweise die Bestimmung der erforderlichen Kraft zur Trennung der Stentgraft Komponenten (Graft-Gewebe und Nitinol-Stentringe) und die Bestimmung der Radialkräfte, also der Kraft zum Offenhalten des schlauchförmigen Implantats bei Blutfluss. Hierbei zeigt sich, dass die neuentwickelten integral gefertigten Textilkonstrukte die Kennwerte von Vergleichsstrukturen, welche in Anlehnung an marktverfügbare Prothesensysteme handgefertigt wurden, teilweise übertreffen. Insgesamt konnte in den zusammen mit Medizintechnikunternehmen aus dem projektbegleitenden Ausschuss durchgeführten Analysen gezeigt werden, dass die in diesem Projekt entwickelten Demonstratoren die geforderten zulassungsspezifischen Anforderungen sehr gut erfüllen [5].

Zusammenfassung und Danksagung

Im Rahmen des von der IGF geförderten Forschungsvorhabens ist es am ITM gelun-gen, eine CAE-gestützte Prozesskette zur Überführung von Patientendaten in komplexe webtechnisch gefertigte schlauchförmige Implantatstrukturen zu entwickeln. Auf Basis der Struktur und Bindungsentwicklungen sowie der technologisch-konstruktiven Entwicklungen im Bereich der Jacquard-Spulenschützen- Bandwebtechnologie lassen sich komplexe Stentgrafts in integraler Bauweise fertigen. Das Erreichen der für die Zulassung von Stentgraft-Implantaten geforderten Werte und die hohe Komplexität der integral gefertigten Strukturen mit unterschiedlichen Durchmessern über die Länge, Fensterungen und mit einer Y-Abzweigung zeigen das große medizinische und technische Potential. Die mit den Projektergebnissen erarbeiteten Lösungen im Hinblick auf die Ableitung von Steuerdateien für die Webmaschine aus 3D-CAD Datensätzen sowie die integrale webtechnische Fertigung mit hoher Reproduzierbarkeit ermöglicht den KMU der Textilindustrie nicht nur die flexible Entwicklung von medizinisch relevanten hochkomplexen Implantat- und Prothesenstrukturen, sondern auch von innovativen Produkten, z. B. zur Kompression und Muskelunterstützung im Sport- und Freizeitbereich oder die Integration sensorischer und aktorischer Komponenten in Composites.

Das IGF-Vorhaben 18774 BR der Forschungsvereinigung Forschungskuratorium Textil e. V. wurde über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der industriellen Gemeinschaftsforschung und -entwicklung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.

Wir danken den genannten Institutionen für die Bereitstellung der finanziellen Mittel und den Firmen des Projektbegleitenden Ausschusses (PA) für die fachliche Unter-stützung sowie allen weiteren Partnern, die uns in der Forschungsarbeit zu diesem Themenkreis unterstützten. Der Abschlussbericht und weiterführende Informationen sind am Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik (ITM) der TU Dresden erhältlich.

Literatur

[1] Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2019 – Kapitel 4 Gesundheit, 2019
[2] Sampson, U.K.A.; Norman, P.E.; Fowkes, F.; Gerald, R.; Aboyans, V.; Song, Yanna; Harrell Jr.; Frank E.; Forouzanfar, Mohammad H.; Naghavi, Mohsen; Denen-berg, Julie O.; McDermott, Mary M.; Criqui, Michael H.; Mensah, George A.; Ezzati, Majid; Murray, Christopher: Estimation of Global and Regional Incidence and Prevalence of Abdo-minal Aortic Aneurysms 1990 to 2010. In: Global Heart 9 (2020), Nr. 1, S. 159
[3] Schegner, P.; Sennewald, C.; Nuß, D.; Hoffmann, G.; Hübner, M.; Gereke, T.; Brünler, R.; Aibibu, D.; Cherif, C.: Process Chain Development for 3D Net Shape Woven Fabrics. In: Autex World Conference, Gent, 11.–15. Juni (2019)
[4] Brünler, R.; Schegner, P.; Aibibu, D.; Hoffmann, G.; Cherif, Ch.: Development of a novel weaving technology for the integral production of complex individual stent grafts. In: 30th Annual Conference of the European Society for Biomaterials – ESB 2019, Dresden, 09.–13. September (2019)
[5] Brünler, R.; Schegner, P.; Nuss, D.; Wöltje, M.; Hoffmann, G.; Aibibu, D.; Cherif, Ch.: Development of CAD-supported weaving technologies for the production of tailor-made im-plants. In: Aachen-Dresden-Denkendorf International Textile Conference, Dresden, 28.–29. November 2019

Weitere Informationen

  • Ausgabe: 4
  • Jahr: 2021
  • Autoren: Ronny Brünler, Philipp Schegner

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