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Montag, 25 April 2022 08:00

Ukrainekrieg: Herausforderung für Galvanobranche

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Geschätzte Lesezeit: 4 - 7 Minuten
Russland fördert viele wichtige Metalle. Durch die Sanktionen gegen Russland drohen empfindliche Lieferengpässe für die Galvanobranche Russland fördert viele wichtige Metalle. Durch die Sanktionen gegen Russland drohen empfindliche Lieferengpässe für die Galvanobranche

Der Krieg in der Ukraine hat viele Abhängigkeiten sowie Vor- und Nachteile des Weltmarkts offengelegt. Viele Unternehmen der Galvanobranche müssen nun Herausforderungen stemmen, von deren Lösung viel abhängt – bis hin zur Existenzfrage. Lieferketten, Absatzmärkte und Technologien werden grundsätzlich und für viele Jahre oder gar Jahrzehnte in Frage gestellt. Es gibt im Angesicht aktueller und möglicher zukünftiger Sanktionen sowie indirekter Gefahren wie IT-Sicherheit bzw. -Infrastruktur viel zu beachten, zu bewerten und zu entscheiden. Nur der nüchterne Blick hilft, sich ergebende Chancen und Risiken strategisch anzugehen.

Abhängigkeit von russischen Rohstoffen

Schon jetzt sind die Auswirkungen der Sanktionen sowie Marktspekulationen oder -unsicherheiten zu spüren. Damit verschärft sich die seit Ende des vergangenen Jahres bereits vorhandenen Unsicherheiten hinsichtlich der mittel- und langfristigen Energiepreise. Dabei sollte nicht nur auf Erdgas und Erdöl geschaut werden, sondern auch auf den Strompreis. Er kann zu einem falschen Gefühl der Sicherheit in dieser Frage führen. Denn ein Teil des Erdgases wird zur Stromerzeugung in Gaskraftwerken verbrannt. So lag im vergangenen Jahr der Anteil der Stromerzeugung aus Erdgas bei ca. 16 %. Anzumerken ist noch, dass kein Strom direkt aus Russland importiert wurde, sondern aus unseren direkten Nachbarländern, wie Frankreich oder Dänemark.

Als Folge der energieintensiven Wertschöpfung in der Galvano- und Oberflächentechnik, könnten nun unabsehbare Kalkulationsrisiken für die Herstellung der Erzeugnisse eingegangen werden. Insbesondere, wenn tagesaktuelle Energiepreise zu Buche schlagen. Und selbst wenn langfristige Versorgungsverträge für Energie eine gewisse Sicherheit bei der Kalkulation versprechen, kann der stark schwankende Energiemarkt nun dazu führen, dass seitens der Versorger die Verträge gekündigt werden oder der Versorger gar insolvent wird.

Kurzfristige Lösungen, wie der Wechsel des Anbieters und die Bindung an langfristige Lieferverträge, könnten helfen. Jedoch ist es aufgrund der neuen Gegebenheiten empfehlenswert zu prüfen, ob sich andere langfristigere Alternativen rechnen. Denkbar ist hier die eigene Stromerzeugung durch erneuerbare Energiequellen. Diese hätten den zusätzlichen und positiven Nebeneffekt, dass der eigene CO2-Fußabdruck sinkt.

Preise für Metalle schwanken stark und tendieren zu steigen

Was jedoch schwerer wiegen könnte sind Preise für Metalle oder Rohölerzeugnisse, wie Kunststoffe oder die der organischen Zusätze zur Pro- zessführung. Schauen wir uns Metalle an, sind Preissteigerungen bereits deutlich zu spüren. Der Nickelpreis hat seit Mitte Februar zeitweise die 100.000-US-Doller-Marke gesprengt. Zum Vergleich: der Durchschnitts- preis für Nickel lag 2021 bei 18.500 US-Dollar. Eine Folge des extremen Preisanstiegs war, dass der Rohstoffhandel an der Londoner Börse unterbrochen wurde.

Aber auch bei der Herstellung anderer Metalle, wie Kupfer, Gold, Platin oder Palladium hat Russland eine große Bedeutung, womit auch deren Preise steigen. Weitergedacht sind damit nicht nur Metallisierungen unter Preisdruck geraten, sondern auch die Herstellungskosten für Legierungen wie Stähle oder Messing. Diese werden in vorgelagerten Wertschöpfungsketten verarbeitet und dann der Oberflächentechnik zur Veredelung zugeführt. Damit erhöht sich der Preisdruck in der gesamten Lieferkette und wird sehr wahrscheinlich die oberflächentechnische Branche zusätzlich treffen. Um mit möglichen Lieferengpässen, Preisüberraschungen oder angespannten Verhandlungsgesprächen möglichst vorbereitet und agil umgehen zu können, ist es empfehlenswert, die Kommunikation mit möglichst vielen Beteiligten der Lieferkette zu verstärken.

Weltmarkt wird kleiner – Wunsch nach nachhaltigen Produkten steigt

Pipeline-Bauteil kurz vor der Vernickelung bei der Firma MTV in Belgien. Besonders der Nickelpreis ist im Zuge des Konflikts massiv gestiegenPipeline-Bauteil kurz vor der Vernickelung bei der Firma MTV in Belgien. Besonders der Nickelpreis ist im Zuge des Konflikts massiv gestiegenDie vielen kleinen und größeren Veränderungen führen dazu, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland einem verstärkten Wettbewerb ausgesetzt ist und Lieferketten neu bewertet werden. Hierbei könnte es sinnvoll sein, schon jetzt auch mögliche Veränderungen zu betrachten, die den chinesischen Markt betreffen. Die politischen Beziehungen des Westens mit China sind zerbrechlich und Geschäftsbeziehungen bereits seit längerem mit einem gewissen Wagnis verbunden. Da ist die von Russland und China öffentlich zelebrierte Nähe ein Anlass sich zumindest des Risikos bewusst zu sein. Vorbereitet zu sein ist besser als eine lähmende Überraschung zu erleben.

Allen voran die Automobilbranche ist mit stark beschleunigten Veränderungen des Heimat- und Weltmarktes konfrontiert. Neben dem Druck, die Elektrifizierung des Produktportfolios voranzutreiben, müssen nun auch Absicherungen eingepreist werden, welche die Folge des Wegfalls eines Absatzmarktes und der Umgestaltung von Lieferketten sind.

So gab es bereits Produktionsstopps bei VW aufgrund fehlender Kabelbäume. Diese wurden von einem Zulieferer in der Ukraine geliefert. Mehr noch: alle großen Automobilkonzerne BMW, VW, Toyota, General Motors oder Mercedes stoppen bzw. schränken die Produktion und den Verkauf ihrer Produkte in Russland stark ein. Da die deutsche galvanotechnische Industrie ein Teil der global aufgestellten Lieferketten ist, wird dies wahrscheinlich auch auf das heimische Geschäft eine Auswirkung haben. Die niedrigen Margen der Automobilisten werden noch weiter unter Druck gesetzt und dieser Druck könnte, wie in der Vergangenheit üblich, dann innerhalb der Lieferkette weitergegeben werden.

Der Industriestandort Deutschland hat nun den Vorteil, dass Verbraucher und Unternehmen den Faktor der Nachhaltigkeit stärker berücksichtigen. Mit Nachhaltigkeit ist dabei oft mehr als nur die umweltfreundliche Herstellung eines Produktes gemeint. Es berücksichtigt mittlerweile immer mehr auch moralische Verpflichtungen. Die ernsthafte Bereitschaft, die Auswirkungen dieser Anforderungen auch zu „bezahlen“, scheint zu steigen. Das ist beispielsweise daran zu erkennen, dass bei der Diskussion zu Sanktionen von Erdgas und -öl gegenüber Russland selbst eine Versorgungslücke in Deutschland und der EU von der deutschen Bevölkerung mitgetragen werden könnte.

IT-Sicherheit modernisieren – digitale Transformation verstetigen

Trotz der Herausforderungen der letzten Jahre durch die Pandemie könnte auf dem Gebiet der digitalen Transformation in den Betrieben der Galvano- und Oberflächentechnik mehr geschehen. Denn der jahrzehntelange Modernisierungsrück­stand in der digitalen Transformation kann in zwei Jahren der Pandemie nicht aufgeholt werden. Zudem ist die Nutzung von Videokonferenzsoftware nur ein Teil dieses Prozesses. Die zusätzlichen Veränderungen sind auch eine Chance, den Prozess weiter und vertiefter durchzuführen. Es gibt viel mehr Möglichkeiten bei der Digitalisierung, um intra- und innerbetriebliche Abläufe zu verbessern.

Beispiele sind sich wiederholende Prozesse im Rechnungswesen oder im Bereich des Personalmanagements. Es können Urlaubsanträge, Sicherheitsstufen, Genehmigungsprozesse für Beschaffungsvorhaben und ähnliches automatisiert werden. Wichtig im Kontext der Automatisierung ist dabei, den eigenen Prozess korrekt zu beschreiben, um einen leicht anpassbaren elektronischen Musterprozess zu erstellen

Neben den Anstrengungen im Bereich der Digitalisierung kommt hinzu, dass die Gefahr eines Cyberangriffs auf die IT-Infrastruktur eines Unternehmens deutlich realistischer geworden ist. Die Folgen eines solchen Angriffs können dabei verheerend sein. Wichtige Daten könnten gestohlen oder unwiderruflich zerstört werden. Computer können übernommen und dadurch Finanzkriminalität begangen werden. Daraus kann sich ein Haftungsalbtraum entwickeln, auch wenn man selbst nicht die Tat begeht. Weitere mögliche Folgen eines Cyberangriffs sind Verluste in der Produktivität, der Diebstahl geistigen Eigentums bzw. von Geschäftsgeheimnissen oder die Kosten der Schadensbeseitigung durch den Angriff. Zuletzt hat das BSI-Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik vor dem Einsatz des Antivirenprogramms der russischen Firma Kaspersky gewarnt. Dieses könnte als Einfallstor für Angreifer dienen. Ein Grund, die Produkte der IT-Firma zu ersetzen.

Galvanotechnische Unternehmen in Deutschland sind in Fragen der Cybersicherheit und der Digitalisierung vielfach noch nicht da, wo sie gerne sein wollen oder sollten. Denn oftmals fehlt es an qualifiziertem Personal und dem Verständnis für IT- Fragestellungen im Unternehmen. Hier könnten IT-Dienstleister oder auch Hochschulvertreter die entsprechenden Bedarfs- und Wissenslücken füllen.

Der menschliche Faktor im gestörten Geschäftsbetrieb

Neben dem politischen und wirtschaftlichen Folgen der „Spezialoperationen“ der russischen Streitkräfte in der Ukraine ist noch der menschliche Faktor zu beachten. Menschen haben miteinander Beziehungen, die vielfältig sind und deren Bewertung sogar widersprüchlich sein kann. Dies gilt auch für Geschäftsbeziehungen von Unternehmen, da diese von Menschen geführt und betrieben werden. Daher können die emotionalen Folgen des Krieges eine ­enorme Belastung für den Geschäfts­betrieb darstellen. Da zwischen­menschliche Beziehungen vielfältig und komplex sein können, ist es ratsam zu überlegen, wie mit der Situation umgegangen werden soll. Hier besteht ein ­großes und unvorhersehbares Konfliktpotenzial innerhalb eines Unternehmens aber auch in dessen Geschäftsbeziehungen. Zudem werden manche Konflikte aus der Angst versteckt, dass deren Offenlegung zu negativen Folgen führen könnte. Die unterdrückten Konflikte können dann unvermittelt und zu einem ungünstigen Zeitpunkt auftreten.

Weiterhin kann es sein, dass Unternehmen Technologietransfers durgeführt haben oder Tochterunternehmen in Russland oder der Ukraine aufgebaut haben. Wie mit dem dort aufgebauten Mitarbeiterstamm oder entsandten Mitarbeitern umgegangen werden soll, ist eine große Verantwortung. Hier hilft es, sich verstärkt auszutauschen. Bei auslän- dischen Liegenschaften können die Hausbank oder Fachanwälte eine Unterstützung sein.

Ein reales Beispiel ist die Firma Collini, die mit sich mit ihren Beziehungen nach Russland nun stärker ausein­andersetzen muss. Collini betreibt in der russischen Millionenmetropole Nizhny Novgorod ein Tochterunternehmen und bietet dort Oberflächenveredelungen an. Noch wird dort weiter produziert, jedoch ist mit dem Fortschreiten des Krieges die Zukunft des Standorts und damit die der dortigen Mitarbeiter schwer planbar.

Weitere Informationen

  • Ausgabe: 4
  • Jahr: 2022
  • Autoren: Dr. Saša P. Jacob

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