Diese Seite drucken
Donnerstag, 22 September 2022 12:00

Neuartige molekulare Prothese für das Gehör

von
Geschätzte Lesezeit: 2 - 3 Minuten
3D-Druck einer biomimetischen Cochlea mit Laser (Foto: J. Moser, MBExC) 3D-Druck einer biomimetischen Cochlea mit Laser (Foto: J. Moser, MBExC)

Derzeit nutzt etwa eine Million Menschen auf der ganzen Welt ein Cochlea-Implantat (CI). Das CI ist ein chirurgisch implantiertes Gerät, das bei hochgradigem Hörverlust oder Taubheit eine Hörwahrnehmung wiederherstellt. Mikrofone an der Außenseite des Geräts wandeln Schall in elektrische Signale um, die dann direkt den Hörnerv in der Cochlea stimulieren.

Diese Struktur im Innenohr wandelt die Schallinformationen in Nervenimpulse um und sendet sie an das Gehirn. Obwohl Cochlea-Implantate sehr erfolgreich bei der Wiederherstellung des Sprachverständnisses in der Stille sind, ermöglicht ihre begrenzte spektrale Auflösung nur sehr eingeschränkt das Verfolgen von Gesprächen bei Umgebungsgeräuschen und limitiert den Musikgenuss.

Der neue Ansatz baut auf der Expertise von Prof. Tobias Moser und seinem Team im Bereich der Optogenetik auf. Die Göttinger Hörforschung hat eine Technik entwickelt, die genetische Manipulationen nutzt, um Nervenzellen mit Licht zu steuern und ihre Aktivität mit einem lichtemittierenden Cochlea-Implantat zu verbinden.

„Wir haben einen alternativen Weg entwickelt, um Licht und die elektrische Aktivität in den Nervenzellen zu koppeln, der keine genetische Manipulation erfordert. Dazu setzen wir eine Substanz ein, die sich wie eine ‚molekulare Prothese' chemisch an ein Rezeptorprotein in den Hörnervenzellen anlagert und diese aktiviert, wenn sie beleuchtet werden“, sagt Co-Erstautor Prof. Dr. Carlo Matera, der das Medikament synthetisiert hat. Die Tatsache, dass nun mehrere Wege zur Stimulation des Hörnervs zur Verfügung stehen, könnte das optische CI breiteren Nutzerkreisen zugänglich machen.

Die von den Forschenden neu entwickelte Substanz wird durch eine einzige Wellenlänge blauen Lichts aktiviert. „Nachdem wir die Verbindung in vitro an Nervenzellen aus dem Hippocampus getestet und charakterisiert hatten, führten wir in vivo Experimente an Wüstenrennmäusen durch”, sagt Co-Erstautorin Dr. Aida Garrido Charles, Wissenschaftlerin am IBEC und der UMG. „Wir konnten nachweisen, dass unser mit Licht aktiviertes Medikament eine elektrophysiologische Reaktion in der Cochlea auslöst. Das ist das erste Mal, dass dies in einem Experiment auf pharmakologische Weise gelungen ist.“

Die durch Licht aktivierte neuronale Steuerung überwindet einige der Nachteile des klassischen Cochlea-Implantats, das durch elektrische Stimulation betrieben wird. „Der Hauptgrund, warum Implantat-Nutzer bisher Schwierigkeiten haben, Musik und Sprache in lauter Umgebung wahrzunehmen, ist, dass die Cochlea mit Flüssigkeit gefüllt ist. Wird sie mit Strom stimuliert, kommt es zu einer breiten Streuung der Erregung“, sagt Dr. Antoine Huet, Mitautor der Studie und MBExC Junior Fellow, UMG. „Da sich Licht in Flüssigkeit besser räumlich begrenzen lässt, kann unsere Technik die Hörnervenzellen in der Cochlea mit viel größerer Präzision stimulieren. Dies würde bedeuten, dass künftige potenzielle Nutzer ein ‚nahezu physiologisches Hören' wiedererlangen könnten. Für die Wahrnehmung von Musik und Gesprächen bei Hintergrundgeräuschen ist eine exzellente Frequenzauflösung des Klangs der technische Schlüssel, das kann mit elektrischer Stimulation nicht erreicht werden.“

In künftigen Studien wird das Medikament verbessert und geprüft, wie genau es das Gehör wiederherstellt. „Unsere Computervorhersagen und tierexperimentellen Studien legen nahe, dass Hören mit Licht das Potenzial hat, einen fast physiologischen Höreindruck zu ermöglichen“, so Dr. Huet.

Fast photoswitchable molecular prosthetics control neuronal activity in the cochlea. Journal of the American Chemical Society (2022), https://doi.org/10.1021/jacs.1c12314.

Weitere Informationen

  • Ausgabe: 8
  • Jahr: 2022
  • Autoren: Dr. Stephan Reuter

Ähnliche Artikel