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Montag, 14 November 2022 09:25

Im Gegenteil - Fuchs und Igel

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In seinem Essay „Der Igel und der Fuchs“, in dem Ideenhistoriker Isaiah Berlin das Geschichtsverständnis von Leo Tolstoi beschreiben will, erklärt er zuerst den wunderlichen Titel, der auf den griechischen Dichter Archilochos zurückgeht, von dem zu lesen ist: „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.“ Berlin unterteilte große Geister auf diese Weise in Kategorien, zum Beispiel Dante als Igel und Shakespeare als Fuchs, was er fortsetzte, um Goethe und Joyce den Füchsen und Proust und Dostojewski den Stacheltieren zuzuschlagen.

Die Unterscheidung erlaubte es Berlin, Tolstoi durch den animalischen Gegensatz zu verstehen. Der russische Dichter war nämlich seiner Natur nach ein Fuchs, der glaubte, ein Igel zu sein. Tolstois Geschichtsauffassung ist seinem Roman „Krieg und Frieden“ zu entnehmen, in dem sich das persönliche Leben auf einem sozialen Ameisenhaufen entfaltet, was seine Kraft aus den dazugehörigen Gegenteilen bezieht. Literaturhistoriker sagen, dass Menschen gezeigt werden, die wie Atome ein bewusstes Leben „für sich“ führen und zugleich unbewusste Träger der historischen Entwicklung sind, in die Tolstoi sie einbettet.

Auf die Wissenschaft angewendet, kann man sagen, dass das Thema des Dualismus im frühen 20. Jahrhundert in der Physik auftauchte, als Albert Einstein der Wellenbeschreibung des Lichts den Teilchenaspekt an die Seite stellte (wofür er den Nobelpreis erhielt). Als sich zeigte, dass sich das bislang nur als Partikel verstandene Elektron auch wellenförmig ausbreiten konnte, musste die Dualität philosophisch ernst genommen werden, was vor allem ­Niels Bohr versuchte, der im Jahr nach Einstein die höchste Auszeichnung seiner Wissenschaft bekam. Bohr vertrat den Gedanken der Komplementarität, der es den Dingen erlaubte, in Teilchenform an einem Ort und zugleich in der Wellenbewegung im ganzen Raum verteilt zu sein. Auch wenn Bohr noch viele weitere Ideen in die Physik einbrachte – mit der Komplementarität wurde er zu ihrem Igel, dem der Fuchs Einstein mit tausenden von Vorschlägen beizukommen versuchte, ohne Erfolg zu haben. Er lehnte Bohrs „große Sache“ als Beruhigungsphilosophie ab, weil bei Bohr ein Subjekt bestimmen kann, ob sich das betrachtete Objekt – das Licht oder ein Elektron – als weite Welle oder positioniertes Partikel zeigt. Bohrs großer Gedanke gibt dem alten Atom eine neue Bedeutung. Es ist nicht mehr für sich ein unteilbares Gebilde, es stellt erst zusammen mit Menschen ein Ganzes dar, und mit diesem Blick zeigt sich, wie es die Welt schafft, von innen her zusammenzuhalten.

Weitere Informationen

  • Ausgabe: 11
  • Jahr: 2022
  • Autoren: Ernst Peter Fischer

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