Eugen G. Leuze Verlag KG
×
 x 

Warenkorb leer.
Warenkorb - Warenkorb leer.
Donnerstag, 01 Dezember 2022 10:59

Naturgesetze erforschen mit Hilfe von Galvanotechnik

von
Geschätzte Lesezeit: 4 - 8 Minuten
Geöffneter Teilchenbeschleuniger  LHC in Genf. Die aus galvanisierten  Aluminiumprofilen zusammen- gesetzte 30 Kilometer lange Röhre  ist von supraleitenden Elektro- magnetspulen eingefasst Geöffneter Teilchenbeschleuniger LHC in Genf. Die aus galvanisierten Aluminiumprofilen zusammen- gesetzte 30 Kilometer lange Röhre ist von supraleitenden Elektro- magnetspulen eingefasst Foto: CERN

Am Oberflächentechnischen Institut Bodensee in Buchheim werden Anlagen zur Galvanisierung von Bauteilen in einem geschlossenen System entwickelt. Mit dieser sogenannten Gramm Selektiv Technik (GST) wurden vor rund 40 Jahren auch wesentliche Bauteile des Teilchenbeschleunigers LHC beschichtet. Die GST-Technologie ist inzwischen weltweit gefragt.

Sie ist als Weltmaschine bekannt. Mit ungeheurem technischem Aufwand und Milliardensummen aus 23 Ländern errichtet, dient sie der Erforschung der Elementarteilchen, den kleinsten Bestandteilen der Materie. So sollen neue Erkenntnisse über die Naturgesetze gewonnen werden. Die Rede ist vom Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) am Forschungszentrum Cern in Genf, einer gewaltigen 30 Kilometer langen Röhrenkonstruktion, die u. a. von supraleitenden Elektromagnetspulen eingefasst ist, um die Teilchen mit einem starken magnetischen Feld auf Kurs zu bringen und dort zu halten. Wegen seiner gewaltigen Dimensionen liegt der Teilchenbeschleuniger sowohl auf schweizerischem als auch auf französischem Staatsgebiet.

Aluminiumprofile, die Störstrahlung abhalten

Oberflächentechnisches Institut Bodensee in Buchheim. Im Fokus der Forschungen:  die Weiterentwicklung der GST-Technik und perspektivisch auch die Fertigung von Kleinserien Oberflächentechnisches Institut Bodensee in Buchheim. Im Fokus der Forschungen: die Weiterentwicklung der GST-Technik und perspektivisch auch die Fertigung von Kleinserien Die Hochvakuumröhren-Autobahn ist aus jeweils zwölf Meter langen Aluminiumprofilen zusammengesetzt, die mit Nickel und Zinn selektiv beschichtet wurden. Zudem wurden sie mit einem Bleimantel versehen, um Störstrahlung zu verhindern. Denn in der Anlage werden mit riesigen Energiemengen Teilchen fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und dann zur Kollision gebracht. Was bei diesem Zusammenstoß passiert, ist Gegenstand der Forschung und muss störungsfrei gemessen werden – mit Hilfe der beschichteten Aluminiumprofile. Die Galvanotechnik ist damit ein unverzichtbarer technologischer Baustein, um wesentliche Fragen unserer Existenz zu klären und damit gegebenenfalls auch Technologien weiterzuentwickeln. Forschungsziele des Teilchenbeschleunigers sind es u. a., das Higgs-Boson-Teilchen als letztes bisher nicht nachgewiesenes Teilchen des Standardmodells der Teilchenphysik zu erforschen sowie möglicherweise noch unentdeckte Raumdimensionen aufzuspüren. Zeitweise herrschte in der Öffentlichkeit die Sorge, der Beschleuniger könnte schwarze Löcher erzeugen und so die Existenz der Erde gefährden.

Beschichtung und Verlötung im Bleiwerk

Für den Beschichtungsprozess wurde ein modernes Galvanisierungsverfahren eingesetzt: die GST-Technik der Gramm Technik GmbH aus Ditzingen. „Die Ein- und Ausgänge der Aluminiumprofile wurden mit unserer GST-Technik maskiert. Die Hauptflächen haben wir erst mit einer Nickel- und später mit einer Zinnschicht beschichtet“, erinnert sich Gerhard Gramm, Geschäftsführer der Gramm Technik GmbH, an die Beschichtungsphase der Profile im Vorfeld der Inbetriebnahme der Weltmaschine im Jahr 2008. „Zinn deshalb, weil das Ganze später mit Bleiplatten verlötet wurde“, ergänzt er. Der 85-jährige sitzt an einem großen Besprechungstisch des Entwicklungszentrums seines Unternehmens, dem Oberflächentechnischen Institut Bodensee (OIB) in Buchheim, während er von dem Projekt erzählt. Durch das breite Glasfenster hinter ihm ist in der Ferne jenseits von hügeligen grünen Feldern ein Zipfel des Bodensees zu erahnen.

Skizze des Teilchenbeschleunigers mit integrierter Hochvakuumkammer  Skizze des Teilchenbeschleunigers mit integrierter Hochvakuumkammer

Neben vielen anderen Forschungsaktivitäten wird die GSTTechnik hier im äußersten Süden der Republik stetig weiterentwickelt. Sie kehrt die konventionelle Galvanotechnik um: die Beschichtung des Bauteils erfolgt nicht in chemischen Bädern, stattdessen kommt die Chemie zum Bauteil. 1980 eingeführt, wird die Technologie inzwischen weltweit erfolgreich eingesetzt. In einer Beschichtungszelle, in der Unterdruck herrscht, können verschiedene Prozessmedien verwendet werden. Dort kann das Bauteil gereinigt, gespült, gebeizt und beschichtet werden, je nach Anforderung. Vorteile sind geringe Emissionen und Abwässer sowie die Integration in die Produktionslinie. Die Technologie eignet sich für die Serie, ist aber nicht so flexibel einsetzbar, wie es etwa offene galvanische Bäder in Lohngalvaniken sind.

„Wir haben das Cern-Projekt in einem Bleiwerk in Goslar realisiert“, fährt Gerhard Gramm fort. „Dort hatten wir genug Platz. Nebenan befand sich ein Eloxalwerk, das zwar geschlossen, aber im Besitz des Bleiwerks war“, blickt der Unternehmer zurück. Mit der im Werk aufgebauten GST-Anlage wurden die Profile dann wunschgemäß beschichtet und anschließend im benachbarten Bleiwerk verlötet.

Querschnitt der jeweils 12 Meter langen Aluminium-Vakuumkammern, die mit einer Nickel-Zinnn-Beschichtung galvanisiert wurden Querschnitt der jeweils 12 Meter langen Aluminium-Vakuumkammern, die mit einer Nickel-Zinnn-Beschichtung galvanisiert wurden

OIB-Mitarbeiterzahl soll steigen

GST-Linearanlage im OIBGST-Linearanlage im OIBDie beschichteten Aluminiumprofile für den Teilchenbeschleuniger waren längst ausgeliefert und montiert, als das Forschungszentrum OIB 2014 eröffnet wurde. Heute arbeiten hier neun Wissenschaftler. Zusammen mit dem 2020 hinzugefügten Anbau sollen über kurz oder lang 15–20 Mitarbeiter in Buchheim tätig sein. Ihre Aufgabe besteht in der Entwicklung von GST-Anlagen für zahlreiche Verfahren – vom Eloxieren über das Beschichten mit Edelmetallen oder dem patentierten Werkstoff CERAMductile® bis hin zu Hartchrom, Nickel, Zinn, Zink sowie Gold und Silber usw. Interessant sind die Maschinen aber auch für die technische Reinigung und das Beizen von Bauteilen. Ist die Entwicklung der Anlagentechnologie für ein Bauteil in Buchheim abgeschlossen, wird der Auftrag in der Regel in den Werken in Ditzingen, Ilmenau oder Polen durchgeführt.

Im Labor des OIB in Buchheim stehen zahlreiche Anlagen, in denen hinter Glas Prozesszellen zu sehen sind. Die Bauteile werden hier in dicht verschließbare Reaktoren eingebracht, die in der Regel an das Substrat angepasst sind, erklärt Gerhard Gramm. Sowohl der Abscheideelektrolyt als auch alle anderen Chemikalien für die Beschichtung sowie Vor- und Nachbehandlung befinden sich in geschlossenen Tanks und werden rechnergesteuert in die Prozesskammer gepumpt. Das spart Prozesslösungen und steigert durch die Wiederholgenauigkeit auch die Prozesssicherheit. In das GST-System gelangen die Teile in Körben, beschreibt er. Pluspunkt der Anlagen ist auch der im Vergleich zu galvanischen Bädern geringere Platzbedarf.

Neben der Weiterentwicklung der GST-Technik will Gramm Technik mit Hilfe der Forschungseinrichtung auch stärker in den Bereichen Medizin- und Uhrentechnik mitmischen. Hierfür sollen in Buchheim weitere Mitarbeiter eingestellt werden, um Kleinserien zu fertigen. Die Nähe zur „Medizintechnik-Hauptstadt“ Tuttlingen soll bei der Erweiterung des Geschäfts in diesem Bereich helfen, ebenso die Erfahrungen aus der Vergangenheit. Schließlich war Gramm Technik bereits in dem profitablen Wirtschaftszweig tätig: Das gut gehende Geschäft mit Dentaltechnik, genauer mit galvanogeformten Zahnersatz aus Gold, wurde erst vor zwei Jahren abgestoßen. Der Grund: Der weltweite Vertrieb und die damit zusammenhängende Beratung passten nicht mehr zum Geschäftsmodell von Gramm Technik. GST-Geräte werden aber weiterhin an den einstigen Partner und jetzigen Besitzer der ehemaligen Sparte, die Heimerle + Meule GmbH in Pforzheim geliefert. Ca. 5000 Anlagen für die Produktion von Zahnersatz sind Gerhard Gramm zufolge weltweit im Einsatz.

Breites Anwendungsspektrum

Mitarbeiter am sogenannten GST-TischMitarbeiter am sogenannten GST-TischAnwendungsgebiet von GST-Anlagen ist z. B. das Harteloxieren von Motorkolben. Inzwischen werden jährlich 170 Millionen Kolben mit der Technologie vollbeschichtet. Ein solcher Kolben steht auch in einem Regal mit Produktbeispielen im OIB, den Gerhard Gramm sichtlich stolz in den Händen wiegt. Für das Harteloxieren sind sehr hohe Stromstärken und eine Kühlung des Elektrolyten erforderlich, damit er nicht überhitzt. GST-beschichtet mit Nickel und Zinn werden aber auch Stromschienen, an denen der Strom in Gebäuden abgenommen wird, bevor er zu den Steckdosen gelangt. Auch die partielle Beschichtung ist mit der Anlagentechnologie möglich, etwa die von modernen Bremssystemen für herkömmliche, aber auch elektrische Fahrzeuge. „Diese Bremsapparatur wird partiell an drei Orten mit einer Oxidschicht beschichtet“, zeigt Gerhard Gramm an einem komplexen Metallbauteil, in das kleine Ventile integriert sind. Zwei Gramm-Anlagen für diesen Zweck tun in den USA ihren Dienst. Zahlreiche weitere GST-Automaten sind im Automobilbau, in der Haushalts- und Elektrotechnik sowie der Heiztechnik im Einsatz.

Derzeit sind zwei Anlagen für das Hartverchromen von Ventilen und Kolbenstangen im Bau. „Sie werden im geschlossenen System ohne chromhaltige Abwässer und Abluft hartverchromt“, betont der Unternehmer. „Das geschieht zehn Mal schneller als in einem normalen offenen System“, wirbt er für seine Technologie.

ZUR INFO

Gramm Technik GmbH

Mitarbeiterzahl: zw. 230–250
Geschäftsgebiete: Anlagenbau und Lohngalvanisierung für Aluminiumsubstrate
Standorte: Insgesamt 8 – Ditzingen, Ilmenau, Illingen/Saar, Buchheim; Polen, USA, Mexiko, China.

Vom Handwerksbetrieb zum kleinen Global Player

Eine Gramm-Mitarbeiterin im Physikalischen Labor in BuchheimEine Gramm-Mitarbeiterin im Physikalischen Labor in BuchheimGerhard Gramm hat mit 85 Jahren inzwischen ein fortgeschrittenes Alter erreicht. Ursprünglich hat er die Firma – damals noch ein kleiner 1930 gegründeter Handwerksbetrieb – von seinem Vater übernommen. Bevor es soweit war, absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung, besuchte die Galvanotechnische Fachschule in Solingen und sammelte Erfahrung in einem Branchenunternehmen. Schnell war seine Expertise gefragt und er hielt parallel zur Firmenleitung Vorlesungen in Aachen, wo auch seine Ehefrau herstammt. Als in den 1970er Jahren die Kunststoffgalvanisierung in der Branche in Mode kam, stieg Gramm Technik in die Aluminiumbeschichtung ein und entwickelte das Unternehmen anschließend zu seiner derzeitigen Größe mit Ablegern in mehreren Weltregionen weiter. Heute läuft das Geschäft gut, auch wegen des breit aufgestellten Kundenkreises. Als etwa die Automobilindustrie 2009 schwächelte, wurde Medizintechnik stärker nachgefragt. So entstand die Idee, das Forschungszentrum in Buchheim nahe Tuttlingen aufzubauen. Auch wenn der Unternehmer Gerhard Gramm noch nicht richtig loslassen kann. Für seine Nachfolge bei Gramm Technik ist gesorgt: Schon jetzt ist Peter Schilderoth Geschäftsführer an seiner Seite. 2023 soll ein Technischer Geschäftsführer hinzukommen. Ein Sohn und eine Tochter arbeiten ebenfalls im Unternehmen. Auch beim Vorzeigeprojekt für den Teilchenbeschleuniger in Genf könnte es ein Nachfolgeprojekt geben. Es bleibt also spannend im Hause Gramm. Wer weiß, inwieweit Galvanotechnik die Weiterentwicklung der Weltmaschine weiter unterstützen kann – schließlich soll der Umfang des Teilchenbeschleunigers eines Tages sogar auf 100 Kilometer erweitert werden.

Weitere Informationen

  • Ausgabe: 11
  • Jahr: 2022
  • Autoren: Robert Piterek

Onlineartikel Suche

Volltext

Autoren

Ausgabe

Jahr

Kategorie

Newsletter

Auf dem Laufenden bleiben? Jetzt unsere Newsletter auswählen und alle 14 Tage die neuesten Nachrichten in Ihrem E-Mail Postfach erhalten:

Der Leuze Verlag ist die Quelle für fundierte Fachinformationen.
Geschrieben von Fachleuten für Fachleute. Fachzeitschriften und Fachbücher
rund um Galvano- und Oberflächentechnik sowie Aufbau- und Verbindungstechnik in der Elektronik –
seit 120 Jahren professionelle Informationen und Fachwissen aus erster Hand.

UNTERNEHMEN

ZAHLARTEN

Paypal Alternative2Invoice
MaestroMastercard Alternate
American ExpressVisa

Zahlarten z.T. in Vorbereitung.

KONTAKT

Eugen G. Leuze Verlag
GmbH & Co. KG
Karlstraße 4
88348 Bad Saulgau

Tel.: 07581 4801-0
Fax: 07581 4801-10

E-Mail: [email protected] oder
E-Mail: [email protected]