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Freitag, 11 September 2020 08:59

Radikale Vereinfachung des Elektronik-Designs

von Gustl Keller
Geschätzte Lesezeit: 4 - 7 Minuten
Radikale Vereinfachung des Elektronik-Designs Bild: Adobe Stock

Die Celus Engineering-Plattform ist die weltweit erste Software, die den Elektronik-Designprozess automatisiert: Damit können Bauteilauswahl, Schaltplanentwicklung und PCB-Layout auf Knopfdruck erfolgen. Der nachfolgende Beitrag basiert auf einer Präsentation und zusätzlichen Informationen von Joris Bethune, Business Development, Contunity GmbH, Garching.

Die Vision hinter Celus ist „eine Welt, in der jeder leicht Elektronik bauen könnte“. Diese Vision ist inzwischen Realität, denn um mit der Celus Engineering-Plattform ein Ergebnis – sprich: ein Design – zu erreichen, genügt es, die Funktionen der Leiterplatte zu beschreiben. Über die Komponenten nachzudenken und (lange) Beschreibungen von Referenzdesigns der Teilehersteller zu lesen, ist nicht mehr nötig. Der Benutzer muss neben den Funktionen der Leiterplatte nur deren Umgebung kennen. Zudem muss er angeben, in welche Richtung (Kosten, Fläche usw.) optimiert werden soll. Das mit der Celus Engineering-Plattform gewonnene Ergebnis kann in das eigene CAD-Werkzeug transferiert und bei Bedarf weiterbearbeitet werden.

Motivation für die Designautomatisierung

Bereits die Fakten zum Elektronik-Design sprechen für sich:

  • Global hat der Markt einen Umfang von 125 Mrd. € und wächst um 5 % p. a.
  • Es ist sehr aufwändig: für eine komplexe Leiterplatte liegt der Aufwand bei 15 Personenjahren.
  • Zudem ist es fehleranfällig – v. a. aufgrund der meist ,manuellen' Handhabung von Tausenden von Komponenten und deren Verbindungen.
  • Und an Elektronikingenieuren besteht (auch langfristig) ein großer Mangel.

Dazu kommt der Frust vieler Elektronikingenieure, denn im Rahmen des Leiterplattendesigns müssen sie bislang zeitaufwändige Routinetätigkeiten ausüben statt kreativ zu arbeiten.

So ging es auch Tobias Pohl, heute Geschäftsführer der Contunity GmbH, als er vor einigen Jahren am Automotive-Lehrstuhl der Technischen Universität München Steuergeräte für verschiedene Anwendungen entwickelte. Er war an die fortschrittlichen Werkzeuge der Softwareentwicklung gewöhnt, wie automatisierte Code-Generatoren, Hochsprachen usw. Die Entwicklung der Hardware war allerdings ganz anders, denn nichts an geeigneten Tools war verfügbar. Jede Komponente und jede Leiterverbindung musste manuell platziert werden. Tobias Pohl empfand dies, als würde man tausende Zeilen Assembler schreiben – ein sehr ineffizienter Prozess, der eine enorme Menge an Potential verschwendet. Zusammen mit seinem Bruder Alex, dem Mitbegründer und CTO der Contunity GmbH, suchte er damals nach einer besseren Lösung für das Elektronikdesign. Aber es gab nichts. Und überall wurde ihnen gesagt: „Das gibt es nicht, weil es unmöglich ist.“

So gingen sie schließlich daran, eine neue Lösung zu entwickeln, mit der Elektronik-Engineering-Prozesse durch Automatisierung radikal vereinfacht und optimiert werden können. Denn die beiden Brüder waren immer davon überzeugt, dass Arbeit etwas für Maschinen und Kreativität etwas für Menschen ist. Mit Hilfe von Algorithmen und KI sollte jeder in der Lage sein, Elektronik zu entwickeln und dies in einem Bruchteil der Zeit. Das war die Geburtsstunde von Celus.

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Automatisierung der Engineering-Prozesse – Entwicklung und Status

Ausgangspunkt war, dass außer der Entwicklung der Anwendungssoftware die Elektronik-Engineering-Prozesse nicht automatisiert waren. Die bisher verfügbaren CAE-Werkzeuge vereinfachen nur Bruchteile des Prozesses und es gibt kein PCB-Design-Tool, das einsatzfertige Ergebnisse wie beispielsweise Datensätze für die Leiterplattenproduktion liefert. Die von Contunity entwickelte Celus Engineering-Plattform automatisiert nun folgende Prozesse vollständig:

  • PCB-Design
  • Auswahl von Komponenten
  • Entwicklung von Schaltplänen
  • HW-bezogene Softwareentwicklung
  • Entwicklung von Anwendungssoftware

Nicht automatisiert sind weiterhin die Spezifikationen der Anforderungen und der Funktionen.

Prozessablauf – einfach und wenige Schritte

Sobald man sich auf der Celus-Plattform angemeldet hat, öffnet sich ein leeres Dashboard. Mit diesem Dashboardtool werden die Projekte erstellt und angezeigt. Dazu werden auf dem Dashboard vom Bediener intuitiv zu nutzende Operationen angeboten. Der Prozessablauf umfasst im wesentlichen folgende vier Schritte:

  • Schritt 1: Beschreiben der Funktionalität der Elektronikbaugruppe anhand von Blockdiagrammen, Verbindungen und Parametern. Auf dem Dashboard kann man ein High-Level-Design erstellen, das von jedem, der an dem Projekt arbeitet, verstanden werden kann.
  • Schritt 2: Auswahl der geeigneten Hardwarekomponenten und Erstellen der Schaltpläne durch KI-Algorithmen, wobei man dank Dashboardtool aber „immer am Steuer sitzt“ und so eine Feinabstimmung der Implementierung durch die eigene Auswahl der Komponenten (z. B. aus der Liste der geeigneten Mikrocontroller) oder den Austausch von Pins vornehmen kann.
  • Schritt 3: Beschreiben der Leiterplattenform und -größe sowie weiterer mechanischer Einschränkungen und Platzieren der Steckverbinder mittels Dashboard. Die intelligenten Algorithmen übernehmen diese Eingaben und optimieren die Schaltung für die Anwendung einschließlich der Erstellung von Schaltplan, Layout und BOM.
  • Schritt 4: CAD-Export von Schaltplan, Layout und BOM in das selbstgewählte CAD-Werkzeug, so dass diese bei Bedarf weiterbearbeitet bzw. modifiziert werden können (derzeit werden Autodesk Adler, Mentor PADS und Professionell/Xpedition unterstützt, mehr demnächst).

Man muss sich also nicht mehr mit sich wiederholenden und mühsamen Aufgaben wie der Auswahl von Komponenten oder dem Layout mit dem Entflechten der Schaltung herumschlagen. Die Celus Software umgeht alle Einschränkungen und liefert eine passende Lösung, die tagelange Arbeit erspart. Auf diese Weise kann das Elektronik-Engineering um bis zu 90 % beschleunigt werden.

Die Celus Engineering-Plattform generiert auch die Basis- und Anwendungssoftware automatisch. Dies erfolgt basierend auf dem gewählten Mikrocontroller, den HW-Anschlüssen und der im funktionalen Blockdiagramm definierten Logik zwischen Ein- und Ausgängen.

Zudem können direkt aus der Celus Engineering-Plattform Prototypen der Leiterplatte angefordert werden. Von Partnerfirmen wird dann online ein Angebot unterbreitet. Dabei ist sichergestellt, dass hochwertige Hardware für die Tests geliefert wird.

Erste Anwendungsbeispiele zeigen die Vorteile auf

Die Nutzung der Celus Engineering-Plattform bietet viele Vorteile, darunter:

  • Komplexität wird an Algorithmen übergeben, so dass die Anforderungen an die PCB-Design-Kompetenz gesenkt werden können
  • Zusammenarbeit über Zeit, Projekte und Standorte wird ermöglicht
  • Einsparungen bei Aufwand und Kosten sowie der Zeit bis zur Markteinführung von bis zu 90 %.

Erste Anwendungsbeispiele belegen dies und zeigen, was in der Realität eingespart werden kann.

Beispiel 1: LAN-Karte für industrielle Steuerungsprozesse

  • Komplexität: mittel
  • Anzahl der Teile: 160
  • Anzahl der Verbindungen: 2600

Diese hochintegrierte LAN-Karte wurde als Refactor eines bestehenden Designs entworfen. Daher waren ein vordefinierter Formfaktor und ein spezifischer Mikrocontroller wichtige Einschränkungen, um mechanische und Code-Kompatibilität mit dem bestehenden Design zu ermöglichen. Das PCB-Design wurde zu 100 % automatisch generiert, wodurch sich der Engineering-Aufwand von 160 h auf 3 h und insgesamt um 90 % reduzierte.

Beispiel 2: Wearable mit umgebungssensitiven LEDs

  • Komplexität: gering
  • Anzahl der Teile: 100
  • Anzahl der Verbindungen: 1500

Bei der Entwicklung des neuen tragbaren Produkts, das stark vom Feedback der Benutzer abhängig ist, ist es wichtig, flexibel zu sein und bei Prototypen schnell zu iterieren. Das Hinzufügen und Entfernen von Sensoren und LEDs zu diesem Design kann mit einem Mausklick erfolgen. Auch hier wurde das PCB-Design zu 100 % automatisch generiert und der Engineering-Aufwand konnte von 80 h auf 2 h und insgesamt um 90 % reduziert werden.

Das Unternehmen und seine Meilensteine

Als die Gründer am Businessplan-Seminar der TUM teilnahmen wurden das Projekt und der Name ,Contunity' geboren. Im Oktober 2016 wurde das Unternehmen mit dem EXIST-Gründerstipendium des deutschen Wirtschaftsministeriums ausgezeichnet. Dieses Stipendium gab den Gründern die Mittel, ihr ehrgeiziges Vorhaben zu verfolgen. Im Dezember 2017 wurde die Contunity GmbH rechtlich gegründet. Gründer waren Tobias und Alexander Pohl. Im Februar 2018 wurde mit der von Contunity entwickelten Software das erste PCB-Design ausschließlich auf der Grundlage von Benutzeranforderungen generiert. Im September 2018 erhielt das Unternehmen den WECONOMY Award. Damit bekam das Team Zugang zu einem umfangreichen Branchennetzwerk.

Im Oktober 2018 schloss Contunity eine sechsstellige Pre-Seed-Investition mit dem Elektronikindustrieexperten Dr. Dieter Lederer ab. Mit der Einstellung des Softwareingenieurs Rui Calsaverini im Dezember 2018 zählte das Start-up-Unternehmen zehn Mitarbeiter. Im Dezember 2019 erfolgte eine 1,7 Mio. € umfassende Seed-Finanzierung von Speedinvest als Lead-Investor, Plug and Play und erneut von Dr. Dieter Lederer.

Der für Produkt und Unternehmen gewählte Namen Contunity wurde nach reiflichen Überlegungen im Februar 2020 in Celus geändert – die rechtlich gültige Umbenennung der GmbH mit Sitz in Garching ist noch nicht abgeschlossen.

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