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Dienstag, 05 Oktober 2021 11:59

Sturm im Wasserglas

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Geschätzte Lesezeit: 4 - 7 Minuten

Die Aufregung über Haarkristalle (engl.: whiskers), die sich nach der Einführung der RoHS in der elektronischen Industrie ausbreitete (siehe etwa NASA), scheint sich weitgehend gelegt zu haben. Zwar fehlt nun das Blei, das unter anderem auch die Entstehung von ‚whiskers' ausgebremst hatte, aber die vorhergesagte Katastrophe blieb – bis auf Einzelfälle – aus.

Prominentester Einzelfall: Ein Herzschrittmacher. Aber auch in diesem Fall lag es am Gehäuse und nicht an einem Bauteil. Auf der zinnbeschichteten Abdeckung des Kristalls formten sich ‚whiskers' aus und entwickelten sich zu leitenden Verbindungen zwischen dem Blech und dem Kristall, was wiederum zum totalen Ausfall der Schrittmacher führte.

1951 hatte Compton bereits auf diese kleinen Metallfäden aufmerksam gemacht, die möglicherweise zu Ausfällen in der Elektronik führen könnten. Tatsächlich berichteten kurz darauf Firmen von ‚Katastrophen', die auf diese Metallfäden zurückgeführt wurden. Ganz spektakulär natürlich die NASA, die eine kurze Liste solcher Fehler zusammengestellt hatte.

Ausformung eines Haarkristalls (nach Chason)Ausformung eines Haarkristalls (nach Chason)

In der Presse breitgetreten wurde der Fall des Gaspedals bei Toyota, wo einige Experten den Grund für plötzliche Beschleunigung eben diesen ‚whiskers' zuschrieben. Das kommt davon, wenn ‚Modeströmungen' oder geldhungrige Anwälte mit Wissenschaft verwechselt werden, denn wie die NHTSA (National Highway Traffic Safety Administration) unzweideutig klar machte, konnten keine Haarkristalle nachgewiesen werden [2], die für eine plötzliche Beschleunigung verantwortlich gemacht werden könnten. Nachdem selbst eine Auslobung von 1 Mio. $ für den Nachweis nie eingefordert wurde, befand die NHTSA, dass der wahre Grund für die plötzliche Beschleunigung bei einer ‚pedal misapplication' zu suchen sei, also einer falschen Anwendung des Gaspedals. Es war wohl nicht die Technik, die versagte, sondern der Fahrer.

Beispiele von ‚whiskers‘ unter dem MikroskopBeispiele von ‚whiskers‘ unter dem MikroskopHaarkristalle sind für eine Reihe von Metallen nachgewiesen. Zinn ist eines davon – und der Mechanismus wird inzwischen recht gut verstanden. Verwendet man Zinn, etwa bei Beschichtungen, kann es zu einer ‚whisker'-Bildung kommen. Die Metallfasern werden wegen des Drucks in den Schichten herausgepresst, denn die Volumenvergrößerung etwa bei der Ausbildung von Diffusionszonen (Cu6Sn5) erfordert mehr Platz. Da in dem meisten Fällen die Metalle zu steif sind, um nachzugeben, wird eben das etwas leichter verformbare Zinn herausgepresst. Auch bei Verformungen des Untergrunds (Biegen von Anschlussbeinchen) wird dieser Druck erhöht.

Hinzu kommt die Erkenntnis, dass es nur einen ziemlich engen Bereich gibt, in dem Zinn-Haarkristalle (normalerweise) entstehen: 25 bis 60 °C. Unterhalb von 25 °C wachsen diese Kristalle nur ‚unwillig', denn der chemisch-kristalline Prozess ist ausnehmend langsam. Oberhalb von 60 °C ist Zinn weich und die Druckspannungen reichen nicht aus, um Zinn aus der Matrix zu drücken. Zudem haben viele Experimente angedeutet, dass das Wachstum meist sehr lange Zeit in Anspruch nimmt, oft mehrere Jahre.

Die Kristalle, die dann aber entstehen, sind recht dünn (1–2 µm) und werden selten länger als ein paar Millimeter (unter Versuchsanordnungen wurden bis zu 9 mm lange Kristalle gezüchtet). Die Form ist unterschiedlich: gerade, gekrümmt oder auch spiralförmig. Ein 3-mm-langes Kristall hat einen Widerstand von etwa 50 Ohm und brennt bei einem Strom von 10 mA durch.

Zudem sind die Kristallfäden spröde und brechen bei Vibrationen leicht ab – all dies Anzeichen, warum sie nicht als Verursacher von Problemen wie bei Toyota wahrscheinlich sind.

Wachstum eines Haarkristalls auf einer Beschichtung (SEM Photographien)Wachstum eines Haarkristalls auf einer Beschichtung (SEM Photographien)

Hochrechnungen, dass sie Schäden von bis zu US$ 10 Milliarden verursacht haben sollen (so berichtet NBC News), sind wohl eher für Manager oder die Versicherungsfirmen gedacht, als dass sie tatsächlich nachweisbare Kosten abbilden. Immerhin sind solche Zahlen weit eindrucksvoller als Aussagen, wie sie etwa eines der großen Häuser für Bauteillieferungen zu bieten hat.

Haarkristalle auf Zinn (NASA)Haarkristalle auf Zinn (NASA)DfR Solutions in Sun City [3] berichtete, dass während 12 Jahren, in denen sie im Bauteilgeschäft waren, kein Fall von Haarkristallen mit Standardbauteilen in Verbindung gebracht werden konnte. Alle Probleme, von denen sie Kenntnis haben, gehen auf nicht-standardmäßige Teile zurück, wie etwa Gehäuse, Spezialstecker, Sammelverbindungen, Leisten und andere mechanische Teile. Laut ihres CEOs Craig Hillman ist kein einziger Vorfall von ‚whiskers' an kommerziellen ‚Off-the-shelf'-Bauteilen wie etwa SOIC, QFP usw. gemeldet worden.

Das deutet an – wenn wir solchen Aussagen Glauben schenken wollen – dass die inzwischen verwendeten Methoden greifen, um Haarkristallen das Wachsen zu erschweren.

Viel Zeit, Geld und Gehirnschmalz wurde aufgewendet, um nach dem Aus des Bleis durch die RoHS Methoden zu finden, um das Wachstum dieser Kristalle weitgehend unmöglich zu machen. Frust war spürbar und nicht wenige der Fachleute meinten, dass die politische Entscheidung, Blei zu limitieren, ein Fehlgriff war.

Die Maßnahmen, die man inzwischen ergriffen hat, reichen von teuer bis bezahlbar. Die meisten werden vom Bauteilhersteller bewerkstelligt, aber es gibt auch einige, die beim Bestücker oder Löter noch machbar sind. Keine der Methoden garantiert eine absolut kristallfadenfreie Welt, aber viele sind hinreichend zuverlässig, so dass Vorfälle, wenn überhaupt, recht selten werden.

  • Es konnte gezeigt werden, dass eine Beimischung von 5 bis 10 % Indium weitgehend Schutz gegen Kristallwachstum bietet, wenn eine Zinnschicht elektrolytisch auf Kupfer aufgebracht wird. Es muss jedoch dafür gesorgt werden, dass das Indium gleichmäßig in der Sn-Schicht verteilt ist. Andere Metalle wie Wismut sind ebenfalls dienlich
  • Einen ähnlichen Effekt erzielt man, wenn man, etwas komplizierter, Ni-Nanozylinder in die Schicht integriert. Die Wirkung hängt von der Dicke der Schicht ab: bei 1,6 µm funktioniert es, bei 4,5 µm verpufft der Effekt
  • Eine Nickelsperrschicht wird oft angewandt. 2 µm Ni produziert dann eine Diffusionschicht Ni3Sn, die weniger Raum einnimmt als Cu6Sn5 und weit langsamer wächst
  • Die Schaffung einer dünnen NiO Lage vor der Aufbringung der Sn-Schicht hilft ebenfalls
  • Statt Glanzzinn sollte eher mattes Zinn verwendet werden. Die gröbere Kristallstruktur reduziert ‚whisker'-Entstehung
  • Je dicker die Sn-Schicht, desto geringer ist das Auftreten von Haarkristallen. Ein Minimum von > 10 µm wird vorgeschlagen
  • Statt Ni kann auch Ag als Sperrschicht verwendet werden. Das ist seltener, denn es geht an den Geldbeutel
  • Bei normalem Gebrauch entstehen auch auf NiPd, NiPdAu und NiAu keine ‚whiskers'
  • Kurz vor der Verwendung können auch Sn-Lagen getempert werden (24 h nach der Beschichtung bei > 60 °C aber vorzugsweise 1 h bei 150 °C) oder
  • in einem Ölbad umgeschmolzen oder gar notfalls in einem Lotbad ersetzt werden
  • Auch Eingießen kann vor ‚Katastrophen' schützen: z. B. Arathane 5750 (ehemals Uralane 5750) verhindert Kurzschlüsse durch Haarkristalle. Das Kunststoffmaterial sollte mit einer Dicke von 50 bis 75 µm auf dem Reinzinn erscheinen
  • Da auch mechanische Belastungen der Kristallentstehung Vorschub leisten, sollte beim Entwurf darauf geachtet werden, dass die Unterschiede in Ausdehnungskoeffizienten gering sind
  • Natürlich ist die sicherste Meth-ode – wenn realisierbar – Zinnbeschichtungen zu vermeiden.

Haben also einige Politiker bei ihrer Entscheidung, die Menschheit vor Blei zu schützen mal wieder den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben? In der elektronischen Industrie, die nur 0,5 % des Bleis verwendete, stellte übrigens dieses Metall kein Gesundheitsrisiko dar.

Referenzen:

[1] Montesquieu zeigte sich belesen als er einen Aufstand in San Marino als „une tempête dans un verre d'eau“ abtat, denn bereits Cicero benutzte das Bild „fluctus in simpulo“ (Sturmflut in einer Schöpfkelle) in seinem De Legibus
[2] K.G. Compton et al.: Filamentary Growths on Metal Surfaces – 'Whiskers’ Corrosion, October 1951, Vol. 7, No. 10
[3] https://nepp.nasa.gov/whisker/ 
[4] www.autonews.com/article/20120727/OEM11/120729908/nhtsa-rejects-tin-whiskers-theory-for-toyota-s-unintended-acceleration-incidents 
[5] www.nbcnews.com/id/21151552/ns/ 
technology_and_science-science/t/danger-lead-free-electronics-tin-whiskers/
[6] 9000 Virginia Manor Rd #290, Beltsville, MD 20705, USA

Weitere Informationen

  • Ausgabe: 9
  • Jahr: 2021
  • Autoren: Prof. Rahn

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