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Montag, 06 März 2023 10:59

Resilienz in transnationalen Lieferketten - Diversifizieren und Nachhaltigkeit stärken

von Inga Carry und Meike Schulze
Geschätzte Lesezeit: 9 - 17 Minuten
Die letzten Jahre haben gezeigt, wie brüchig Lieferketten sein können Die letzten Jahre haben gezeigt, wie brüchig Lieferketten sein können Bild: AdobeStock

Die Entwicklungen der letzten drei Jahre haben gezeigt, dass unser globalisiertes System eng verzahnter Lieferbeziehungen erhebliche Störanfälligkeiten mit sich bringt. Diese Erfahrungen zeigen, dass Kosteneffizienz von Lieferketten kein alleiniges Kriterium mehr für unternehmerisches Handeln oder wirtschaftspolitische Strategien sein kann. Auch bei der gesetzlichen Regelung von Lieferketten stehen einige Veränderungen an: Mit dem 1. Januar 2023 trat das deutsche 'Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten' (kurz: Lieferkettengesetz) in Kraft. Auch auf EU-Ebene wird ein solches Gesetz verhandelt. Die strategische Neuausrichtung sollte Nachhaltigkeit als zentralen Baustein von Resilienz betrachten.

Developments over the past three years have shown that our globalized system of closely interlinked supply relationships entails considerable vulnerabilities to disruption. These experiences show that cost efficiency of supply chains can no longer be the sole criterion for entrepreneurial action or economic policy strategies. Some changes are also in store for the legal regulation of supply chains: On January 1, 2023, the German 'Act on Corporate Due Diligence in Supply Chains' (Supply Chain Act) came into force. Such a law is also being negotiated at EU level. The strategic realignment should consider sustainability as a central building block of resilience.

1 Einleitung

Gereinigtes polykristallines SiliciumGereinigtes polykristallines SiliciumUnterbrechungen in der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern im Zuge der Covid19-Pandemie haben eine intensive Debatte über transnationale Lieferbeziehungen ausgelöst. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stehen außerdem geopolitische Spannungen und Abhängigkeiten von einzelnen (unsicheren) Partnern als zusätzlicher Risikofaktor im Fokus der Diskussion – nicht nur mit Blick auf Russland, sondern vor allem auch auf China. In Folge hat sich die Europäische Kommission zum Ziel gesetzt, zu große Abhängigkeiten von Handelspartnern zu reduzieren, um die Widerstandsfähigkeit der europäischen Industrie zu stärken. Auch die Bundesregierung hat industriepolitische Maßnahmen mit einer ähnlichen Zielsetzung formuliert.

Diese Neuausrichtung zeigt sich vor allem in strategisch wichtigen Sektoren, wie etwa bei der Versorgung mit mineralischen Rohstoffen oder der Produktion von Halbleitern. Um die Resilienz von Lieferketten zu stärken, sollen Risiken - vor allem in Form von geopolitischen Dynamiken und kritischen Abhängigkeiten, aber auch im Bereich von Menschenrechts- und Umweltrisiken - stärker in unternehmerisches Handeln und in die industriepolitische Planung einbezogen und Diversifizierungsmöglichkeiten erschlossen werden.

Grundvoraussetzung dafür ist eine tiefergehende Analyse der gesamten Lieferketten, vom Rohstoffabbau bis zum Endprodukt. Diese muss auch die soziale und ökologische Nachhaltigkeit von Lieferketten stärker in den Blick nehmen. Denn Resilienz und Nachhaltigkeit von Lieferketten bilden keine Gegensätze; vielmehr müssen sie als komplementäre Strategien verstanden werden.

2 Abhängigkeiten und Vulnerabilität in transnationalen Lieferketten

Die Störanfälligkeiten von globalen Lieferketten sind keineswegs ein Phänomen aktueller Krisenzeiten, sondern Begleiterscheinungen immer komplexerer und globalisierter Lieferkettensysteme. Diese zeichnen sich durch eine Verbindung aus Volatilität (volatility), Unsicherheit (uncertainty), Komplexität (complexity) und Mehrdeutigkeit (ambiguity) aus [1].

Abb. 1: Schematische Darstellung der Stufen von metallischen LieferkettenAbb. 1: Schematische Darstellung der Stufen von metallischen Lieferketten

Dies lässt sich anhand von mineralischen Rohstoffen – die Grundlage der industriellen Wertschöpfung – gut illustrieren. Die Lieferketten von mineralischen Rohstoffen lassen sich anhand von vier Stufen schematisch darstellen (siehe Abb. 1): die Förderung der Rohstoffe, die Raffinadeproduktion (d. h. die Veredelung von Rohstoffen), die weitere Verarbeitung zu Vorprodukten und die Herstellung von Endprodukten sowie das Recycling [2].

An all diesen Stufen bestehen unterschiedliche Abhängigkeiten und Risiken. Deutsche und europäische Unternehmen sind vor allem an der Endverarbeitung beteiligt und haben dadurch oft wenig Kenntnis über die Risiken der vorgelagerten Lieferkette. Laut der Deutschen Rohstoffagentur (DERA) existieren jedoch genau in diesen Bereichen hohe Preis- und Versorgungsrisiken. Darüber hinaus ist die Abhängigkeit von China hier besonders ausgeprägt. Kritisch ist insbesondere die Versorgung mit Raffinadeprodukten: 70% dieser Produkte weisen ein hohes Beschaffungsrisiko auf; rund 93% der Produktion findet in China statt [3].

Laborstudien über Mikroschaltungen und die Herstellung von Halbleiter-WafernLaborstudien über Mikroschaltungen und die Herstellung von Halbleiter-WafernMineralische Rohstoffe sind zentrale Elemente für die Produktion von Halbleitern – ihre Lieferkettem sind also vorgelagert. Einige Rohstoffe, wie bspw. Silicium, sind besonders kritisch. Veredeltes Silicium, der Basisrohstoff für die Produktion von Halbleitern, unterliegt laut DERA der Gruppe mit den höchsten Preis- und Versorgungsrisiken. Vorkommen sind zwar weltweit vorhanden, jedoch ist der Abbau stark in China konzentriert: im Jahr 2021 entfiel etwa 67% der weltweiten Siliciumgewinnung auf China. Das Land ist auch mit Abstand der weltweit größte Exporteur von hochreinem Silicium [4]. Somit bestehen hohe Risiken in der sicheren Versorgung mit Rohstoffen, die für die Halbleiterproduktion wichtig sind.

Zudem ist die Lieferkette von Halbleitern in die EU selbst von großen Abhängigkeiten geprägt. Sie konzentriert sich zu relevanten Teilen auf den asiatischen Raum, etwa 64% der weltweiten Herstellung entfällt dabei auf Taiwan [5]. Zwei der drei größten Auftragsfertiger der Welt, TSMC (alleine 53% Marktanteil) und UM, haben ihren Sitz in Taiwan [6]. Im Bereich Entwicklung und Design ist die EU wiederum stark von US-Unternehmen abhängig, wie auch in der Herstellung von Geräten und Anlagen für die Produktion.

Disruptionen an einer Stufe in diesen Lieferketten können hohe Vervielfachungseffekte mit sich bringen. Europäische Unternehmen sind häufig auf einzelne Zulieferer und/oder Produktionsländer angewiesen, bei Unterbrechungen gibt es wenig bis keine Ausweichmöglichkeiten auf andere Zulieferer. Die Gründe für potentielle Disruptionen entlang der Lieferkette sind dabei vielfältig. Sie reichen von länderspezifischen Risiken wie Streiks und Protesten, über umwelt- und standortbezogenen Risiken, geopolitischen Dynamiken, bis hin zu technologischen Unsicherheiten, etwa in Form von Cyberangriffen [7]. Zudem können innen- und außenpolitische Entwicklungen immer wieder zu kurzfristigen Produktionsausfällen oder auch Exportstopps führen, wie bspw. im Jahr 2021, als die Volksrepublik einen temporären Exportstopp von Magnesium beschloss und damit die weltweite Versorgung kurzzeitig unterbrach.

Mit Blick auf die Halbleiterproduktion stellen auch die Drohungen Chinas bezüglich einer möglichen Annexion Taiwans ein potentielles Risiko dar. Sollte es zu einer militärischen Eskalation kommen, hätte dies auch unmittelbar Auswirkungen auf die Produktion von Halbleitern und die weltweite Versorgung nachgelagerter Industrien – auch die in der EU.

3 Strategische Neuausrichtung: Resiliente Lieferketten und Diversifizierungsansätze

Die Covid-19-Pandemie sowie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine haben die Frage nach Abhängigkeiten in globalen Lieferketten erneut ins unternehmerische und politische Interesse gerückt. Aufgrund der Versorgungsengpässe ab 2020 hat die Europäische Kommission daher ihre Abhängigkeiten erneut analysiert und ist bemüht, Lehren aus der Krise zu ziehen. In der 2021 aktualisierten Industriestrategie setzt sie sich zum Ziel, die offene strategische Autonomie der EU zu stärken und, wo notwendig, Lieferketten umzugestalten. Dabei wurden sechs Bereiche identifiziert, die als besonders kritisch gelten – dazu zählen die Versorgung mit Rohstoffen wie auch mit Halbleitern [8]. Im Januar 2023 hat die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zudem den Sovereignity Fund angekündigt, der 'Made in Europe' vor allem in diesen strategischen Bereichen fördern soll. Ähnliche politische Ansätze werden auch in anderen Industrienationen verfolgt, die Vereinigten Staaten sind hier Vorreiter.

Die Europäische Kommission will zu große Abhängigkeiten von Handelspartnern reduzieren – auch und gerade von China (Bild: Skyline von Chongqing)Die Europäische Kommission will zu große Abhängigkeiten von Handelspartnern reduzieren – auch und gerade von China (Bild: Skyline von Chongqing)

Seit über einem Jahrzehnt schwelt der Handelskonflikt zwischen China und den USA, der sich seit 2018 weiter zuspitzt. Die US-Regierung zielt darauf ab, den eigenen Wirtschaftsstandort zu stärken und sich vor allem in strategischen Bereichen unabhängiger von China zu machen. Durch die geopolitischen Ereignisse und den damit verbundenen Lieferketten-Störungen seit 2021 verfolgt sie diese Zielsetzung nun noch energischer. Die Halbleiterindustrie, als strategischer Sektor und wichtiger Industriezweig im Technologie-Wettbewerb mit China, ist besonders betroffen. Im Oktober 2022 beschloss das US-Handelsministerium abermals weitreichende Exportrestriktionen für Halbleiter und Herstellungsequipment. Zudem wurden umfassende Investitionsprogramme ins Leben gerufen: Der im August 2022 unterzeichnete CHIPS and Science Act soll mit rund 52 Mrd. $ die Halbleiterproduktion im Land fördern. Auch der wenige Monate später vom US-Kongress beschlossene Inflation Reduction Act (IRA) bietet weitere Subventionen, z. T. verbunden mit konkreten Vorgaben zur inländischen Beschaffung von Vorprodukten.

Die Europäische Antwort folgte Ende 2022 in Form des EU Chips Act. Der Vorschlag der EU- Kommission sieht vor, die europäische Innovationskraft und High-Tech-Chips-Herstellung mit rund 43 Mrd. € zu fördern. Die deutsche Bundesregierung unterstützt das Vorhaben und hofft, dass sich Marktführer aus der Chipherstellung hierzulande ansiedeln. Einige Experten, wie Stefan Kooths vom Institut der Weltwirtschaft (IfW Kiel), sehen die Pläne kritisch und schätzen die Chancen als gering ein, dadurch den Einfluss der EU in der Lieferkette entscheidend zu erhöhen [9]. Gerade weil die Entflechtung der stark integrierten Lieferketten eine Herausforderung ist, sollte die EU stärker in die Förderung von internationalen Kooperationen investieren. Dazu gehört vor allem auch die transatlantische Kooperation. Allerdings gestalten sich Gespräche mit den USA aktuell schwierig, da die protektionistischen Maßnahmen des IRA in Europa auf Kritik stoßen.

Um in der Halbleiterindustrie strategisch unabhängiger zu werden, reicht allerdings ein Fokus auf die Produktion alleine nicht aus. Auch kritische Abhängigkeiten von mineralischen Rohstoffen müssen in den Blick genommen werden. Die Bundesregierung stellte im Januar 2023 ein Eckpunktepapier für eine strategische Versorgung mit mineralischen Rohstoffen vor. Die vorgesehenen Maßnahmen beinhalten neben der Umsetzung einer Kreislaufwirtschaft die Diversifizierung von Lieferketten sowie die Stärkung europäischer und internationaler Kooperation [10]. Auf EU-Ebene will die Kommission Ende März 2023 einen Gesetzesvorschlag zu kritischen Rohstoffen (Critical Raw Materials Act) vorstellen, welcher verbessertes Krisenmanagement wie auch Strategien für die Reduktion von Abhängigkeiten aufzeigen soll. Auch die internationale Kooperation nimmt konkrete Züge an. So wurde Mitte 2022 die Mineral Security Partnership (MSP) ins Leben gerufen, ein Verbund aus rund zehn Industriestaaten, inklusive der USA und der EU, der sich die Förderung von Informationstausch und Investitionen entlang von Rohstofflieferketten zum Ziel gesetzt hat.

Diese gemeinsamen Initiativen zielen somit auf den Umbau von Lieferketten ab – weg von der Vormachtstellung Chinas hin zu einer Verlagerung der Weiterverarbeitung in andere Regionen. Dabei geht es um ein mittel- bis langfristiges Ziel, das mit entsprechenden finanziellen Mitteln unterlegt werden muss. Die Verflechtung einzelner Lieferketten muss dabei mitgedacht werden: Ohne eine gesicherte Versorgung mit Silicium findet auch keine Produktion von Halbleitern in der EU statt. Dafür sind kohärente industriepolitische Strategien notwendig und im besonderen Maße die Stärkung internationaler Partnerschaften. Gerade der Abbau von Rohstoffen ist aufgrund geologischer Verfügbarkeiten oft nur außerhalb der EU möglich. Darüber hinaus ist eine Verlagerung der Raffinerieproduktion in diese Abbauländer und der dortige Aufbau oder die Stärkung nachgelagerter Lieferketten, nicht nur wirtschaftlich und ökologisch sinnvoll, sondern auch im Interesse der dortigen Partner [11].

4 Sorgfaltspflichten für Unternehmen: Beitrag zur Resilienz in Lieferketten

Die Stärkung von Resilienz in transnationalen Lieferketten erfordert neben der Diversifizierung von Bezugsquellen zudem die Schaffung von Transparenz und Nachhaltigkeit, sowohl im menschenrechtlichen als auch im umweltbezogenen Sinne. Jene Stärkung wird im traditionellen Lieferkettendiskurs dem bislang primären Ziel der Effizienz- und Ertragssteigerung oft als Gegensatz – ja als grundlegender Zielkonflikt – gegenübergestellt. Erfahrungen aus den vergangenen Krisenjahren zeigen jedoch, dass Transparenz und Nachhaltigkeit als zentrale Bestandteile des unternehmerischen Risikomanagements angesehen werden müssen und zur Resilienz von Lieferketten beitragen. Sie sollten als Teil einer strategischen Neuausrichtung von Lieferbeziehungen einbezogen werden.

Zahlreiche wissenschaftliche Studien verdeutlichen, dass Unternehmen, die Nachhaltigkeit und Transparenz zum zentralen Baustein ihres Lieferkettenmanagements machen, reaktionsfähiger sind. Sie können Disruptionen und anderen unvorhersehbaren Ereignissen schneller, gezielter und effektiver begegnen und somit Krisen tendenziell besser (und wirtschaftlicher) navigieren. Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2021 zeigt, dass Unternehmen, die bereits vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie in eine verantwortungsvolle Unternehmensführung (responsible business conduct) investiert haben, insgesamt resilienter waren [12].

5 Gesetzliche Verankerung von Sorgfaltspflichten: Lieferkettengesetze auf nationaler und europäischer Ebene

Im Juni 2021 verabschiedete die deutsche Bundesregierung das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), das seit dem 1. Januar 2023 erstmals für Unternehmen mit über 3.000 Beschäftigten und ab 2024 für Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten gilt [13]. Damit ist Deutschland nach Frankreich (das französische Loi de Vigilance trat 2019 in Kraft) das zweite Land innerhalb der EU, in dem umfassende sektorübergreifende Lieferkettensorgfaltspflichten gesetzgeberisch verankert sind; in vielen anderen europäischen Ländern, wie etwa den Niederlanden, Luxemburg und Belgien, werden derzeit ähnliche Gesetzesvorhaben diskutiert oder bereits umgesetzt (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Gesetze und Initiativen für Sorgfaltspflichten entlang von Lieferketten in der EU und Großbritannien. Eigene Darstellung (Stand 2022 / Bild: Stiftung Wissenschaft und Politik)Abb. 2: Gesetze und Initiativen für Sorgfaltspflichten entlang von Lieferketten in der EU und Großbritannien. Eigene Darstellung (Stand 2022 / Bild: Stiftung Wissenschaft und Politik)

Auch die EU arbeitet an einem Gesetz zu unternehmerischer Sorgfaltspflicht. Im März 2022 stellte die EU-Kommission einen entsprechenden Vorschlag (Corporate Sustainable Due Diligence Directive) für eine Richtlinie vor, welcher in einigen Teilen deutlich über das deutsche Gesetz hinausgeht. So sieht der Entwurf die Berücksichtigung der gesamten vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette (nicht nur der unmittelbaren Zulieferer, wie es im deutschen Gesetz festgeschrieben ist), die Ausweitung der umwelt- und klimabezogenen Sorgfaltspflichten sowie die zivilrechtliche Haftbarkeit von Unternehmen vor. Auf Basis dieses Entwurfs finden derzeit die sogenannten Trilog-Verhandlungen zwischen der Kommission, dem Parlament und dem Rat statt. Ein finaler Gesetzesentwurf wird bis spätestens nächstes Jahr erwartet.

Hauptziel der europäischen Richtlinie ist die Schaffung eines Level Playing Field – also der Garantie gleichsam hoher Standards und Bedingungen für alle Unternehmen innerhalb der EU. Dadurch will die EU potenziellen Wettbewerbsnachteilen zwischen europäischen Unternehmen, aber auch gegenüber ausländischen Unternehmen, die in Europa produzieren, entgegenwirken. Gemäß der jetzigen Gesetzesvorlage der EU-Kommission sind lediglich Großunternehmen – ca. 1% der in der EU ansässigen Unternehmen – betroffen, von denen viele über die notwendigen Ressourcen zur Umsetzung der Verordnung verfügen, oder bereits entsprechende Strukturen aufgebaut haben. Häufig zu wenig betrachtet werden außerdem mögliche Reputationskosten für Unternehmen, die ihren Sorgfaltspflichten in den Bereichen Umweltschutz und Menschenrechten nicht nachkommen. Klar ist jedoch auch, dass größere Unternehmen mehr Kapazitäten haben, Sorgfaltspflichten umzusetzen; dementsprechend ist es unabdingbar, kleineren und mittelständischen Unternehmen, die sowohl direkt als auch indirekt von diesen Gesetzen betroffen sind, ausreichend Unterstützung zukommen zu lassen. Brancheninitiativen und Multi-Stakeholderinitiativen wie die Initiative for Responsible Mining Assurance (IRMA) können die Umsetzung des Gesetzes flankieren, während staatliche Stellen die Unternehmen durch Handreichungen, Informationsplattformen und Austauschangebote unterstützen.

Nicht nur in der EU gibt es gesetzliche Initiativen für Sorgfaltspflichten entlang von Lieferketten. So haben Norwegen, Kanada und Australien im letzten Jahr ebenfalls eigene Gesetze zu Lieferkettensorgfalt verabschiedet. Und auch in wichtigen Bergbauländern wie Chile und Südafrika schreitet die gesetzliche Verankerung von sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit beim Abbau und der Weiterverarbeitung von Rohstoffen voran. Auf multilateraler Ebene benennt die bereits erwähnte Mineral Security Partnership ihrerseits die Schaffung von Transparenz und Nachhaltigkeit von (Rohstoff-)Lieferketten als eine von drei Kernpunkten. In den Strategien zur Halbleiterproduktion ist Nachhaltigkeit dagegen bislang noch kein zentrales Thema.

Bleibt noch die Frage nach dem Marktgiganten und Hauptwettbewerber China. Dass sich die Volksrepublik unter der jetzigen politischen Führung durch ein europäisches, geschweige denn deutsches Gesetz zu Sorgfaltspflichten zu einem Verfechter und Durchsetzer von Menschenrechten in globalen Lieferketten entwickelt, bleibt unwahrscheinlich. Aber es wird die Transparenz erhöhen, denn europäische Unternehmen können den Druck erhöhen. Anders sieht es im Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit aus. China hat sich die Entwicklung hin zu einer emissionsarmen Kreislaufwirtschaft als politisches und wirtschaftliches Ziel gesetzt. Entsprechend sind hohe innerchinesische Umweltauflagen bereits heute Teil der chinesischen Politik und werden an Bedeutung gewinnen. Auch sollte man den Einfluss, den die EU insbesondere im Konsortium mit anderen großen Industriestaaten auf die globalen Wettbewerbsbedingungen hat, nicht unterschätzen. Europäische Unternehmen werden bei der Überprüfung ihrer Lieferkette auch ihre Zulieferer mit in die Pflicht nehmen und so den Druck auf chinesische Firmen erhöhen. Als konkretes Beispiel dient die von der EU 2016 beschlossene Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), die augenscheinlich Einfluss auf die innerchinesische Debatte und die daraufhin beschlossenen Gesetze zu Datenschutz und Persönlichkeitsrechten hatte. In jedem Fall wird ein europäisches Gesetz die Transparenz von globalen Lieferketten erhöhen, selbst wenn es vorerst nur darum geht, bislang blinde Flecken entlang der Lieferketten zu identifizieren.

Fazit und Ausblick

Die Entwicklungen der letzten drei Jahre haben gezeigt, dass unser globalisiertes System eng verzahnter Lieferbeziehungen erhebliche Störanfälligkeiten mit sich bringt. Die Kosteneffizienz von Lieferketten kann nunmehr kein alleiniges Kriterium für unternehmerisches Handeln oder wirtschaftspolitische Strategien sein. Die strategische Umgestaltung von globalen Lieferketten muss zukünftig stärker auf geopolitische Dynamiken, den Abbau von Abhängigkeiten und die Stärkung von Transparenz und Nachhaltigkeit ausgerichtet sein. Dies ist sowohl die Aufgabe von privatwirtschaftlichen Unternehmen als auch von staatlicher Seite. Erstere können durch ein entsprechendes Risikomanagement, die Schaffung von Transparenz entlang der Lieferkette sowie die Umsetzung unternehmersicher Sorgfaltspflicht zur Stärkung ihrer Lieferketten beitragen. Letztere können insbesondere durch die gesetzliche Verankerung von Sorgfaltspflichten und Nachhaltigkeitskriterien, durch langfristige industriepolitische Strategien zur Diversifizierung und Versorgungssicherheit sowie durch begleitende Förder- und Investitionsprogramme entsprechende Rahmenbedingungen für die Wirtschaft setzen.

Im mineralischen Rohstoffsektor sowie mit Blick auf die Produktion von Halbleitern – beides Bereiche, die von strategischem Interesse für die EU, jedoch jeweils durch hohe Abhängigkeiten und Risiken geprägt sind – werden bereits Anstrengungen unternommen, um die Resilienz von Lieferketten zu stärken: Im Rahmen der Europäischen Industriestrategie wird der EU Chips Act verhandelt; der EU Critical Raw Materials Act soll Ende März 2023 vorgestellt werden. Zentrale Aufgabe der Politik ist nun, Kohärenz zwischen diesen Instrumenten sowie zwischen den unterschiedlichen nationalen, regionalen und multilateralen Ebenen herzustellen – und Handelskonflikte zu vermeiden.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen und der Diskussion um Versorgungssicherheit von kritischen Gütern ist zudem wichtig, dass der Aspekt der Nachhaltigkeit den Bemühungen der Diversifizierung nicht hinten angestellt wird. Denn Nachhaltigkeit ist ein zentraler Bestandteil resilienter Lieferketten und somit auch von Versorgungssicherheit. Durch Transparenz können Unternehmen nicht nur bestehende Abhängigkeiten, sondern auch potenzielle Risiken besser identifizieren, mögliche Lieferausfälle antizipieren und Diversifizierungsmöglichkeiten anvisieren. Gerade in Lieferketten mit hohen Abhängigkeitsverhältnissen und risikoreichen Zulieferern (wie beispielsweise China), ist ein proaktives Risikomanagement im eigenen Interesse sowohl der Unternehmen als auch des Staates.

Inga CarryInga Carry

Meike SchulzeMeike Schulze

Inga Carry ist Wissenschaftlerin im Projekt Forschungsnetzwerk 'Nachhaltige Globale Lieferketten' an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit einem Forschungsschwerpunkt auf Umwelt- und Ressourcenkonflikten sowie Ressourcengovernance. Meike Schulze ist ebenfalls Wissenschaftlerin an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Projekt 'Transnationale Governance-Ansätze für nachhaltige Rohstofflieferketten im Andenraum und im südlichen Afrika' und forscht dort vor allem zum südlichen Afrika. Beide Projekte werden vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert.

Referenzen

[1] Kiebler, L.; Ebel, D.; Klink, P. ; Sardesai, S.:Risikomanagement disruptiver Ereignisse in Supply Chains, Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML, Dortmund, 2020, 4, https://www.iml.fraunhofer.de/content/dam/iml/de/documents/OE%20220/Risikomanagement_disruptiver_Ereignisse_in_Supply_Chains.pdf
[2] Müller, M.; Saulich, C.; Schöneich, S.; Schulze, M.: Von der Rohstoffkonkurrenz zur nachhaltigen Rohstoffaußenpolitik, Politikansätze für deutsche Akteure, SWP-Studie 13/2022, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin, 2022, https://www.swp-berlin.org/publikation/von-der-rohstoffkonkurrenz-zur-nachhaltigen-rohstoffaussenpolitik
[3] Al Barazi, S.; Damm, S.; Huy, D.; Liedtke, M.; Schmidt, M.: DERA-Rohstoffliste 2021, Angebotskonzentration bei mineralischen Rohstoffen und Zwischenprodukten – potentielle Preis- und Lieferrisiken, Berlin, Deutsche Rohstoffagentur in der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (DERA), https://www.deutsche-rohstoffagentur.de/DE/Gemeinsames/Produkte/Downloads/DERA_Rohstoffinformationen/rohstoffinformationen-49.pdf?__blob=publicationFile
[4] UN Comtrade, Exportdaten aus 2021, Hochreines Silicium, HS Code: 280469
[5] Doll, F.: So wichtig ist Taiwan als Chip-Hersteller, WirtschaftsWoche, Zugriff 26.01.2023, 2022, https://www.wiwo.de/unternehmen/it/seitenblick-so-wichtig-ist-taiwan-als-chip-hersteller/28604482.html
[6] Sander, M.; da Silva, G.: Sollte China wirklich die Chip-Hochburg Taiwan angreifen, drohte der Weltwirtschaft eine Katastrophe, Neue Zürcher Zeitung, 2022, Zugriff 26.01.2023, https://www.nzz.ch/technologie/sollte-china-wirklich-die-chip-hochburg-taiwan-angreifen-drohte-auch-der-weltwirtschaft-eine-katastrophe-ld.1654300
[7] Maihold, G.; Mühlhöfer, F.: Instabile Lieferketten gefährden die Versorgungssicherheit, SWP-Aktuell 80/2021, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin, https://www.swp-berlin.org/publikation/instabile-lieferketten-gefaehrden-die-versorgungssicherheit
[8] Europäische Kommission, Europäische Industriestrategie, 2020, Zugriff 26.01.2023, https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/europe-fit-digital-age/european-industrial-strategy_de
[9] Kooths, S.: Chips Act: EU sollte sich am Subventionswettlauf nicht beteiligen,2022, Zugriff 26.01.2023, https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/medieninformationen/2022/chips-act-eu-sollte-sich-am-subventionswettlauf-nicht-beteiligen/
[10] Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Eckpunktepapier: Wege zu einer nachhaltigen und resilienten Rohstoffversorgung, 2023, https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/E/eckpunktepapier-nachhaltige-und-resiliente-rohstoffversorgung.pdf?__blob=publicationFile&v=6
[11] Müller, M.; Saulich, C.; Schöneich, S.; Schulze, M.: Von der Rohstoffkonkurrenz zur nachhaltigen Rohstoffaußenpolitik, Politikansätze für deutsche Akteure, SWP-Studie 2022/S 13, 22.12.2022, S. 17 (© Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2020)
[12] OECD, Building more resilient and sustainable global value chains through responsible business conduct, 2021, https://www.oecd.org/corporate/mne/rbc-and-trade.htm#:~:text=Promoting%20policy%20coherence%20between%20responsible%20business%20conduct%20%28RBC%29%2C,the%20gains%20from%20globalisation%20are%20more%20fairly%20distributed
[13] Siehe dazu auch Maihold, G.; Müller, M.; Saulich, C.; Schöneich, S.: Verantwortung in Lieferketten: Das Sorgfaltspflichtengesetz ist ein erster Schritt, SWP Aktuell 2021/A19, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin, https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2021A19_Lieferkettengesetz.pdf
[11] Müller, M.; Saulich, C.; Schöneich, S.; Schulze, M.: Von der Rohstoffkonkurrenz zur nachhaltigen Rohstoffaußenpolitik, Politikansätze für deutsche Akteure, SWP-Studie 2022/S 13, 22.12.2022, S. 17 (© Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2020) 

Weitere Informationen

  • Ausgabe: 2
  • Jahr: 2023
  • Autoren: Inga Carry, Meike Schulze, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)

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