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Freitag, 12 Mai 2023 11:59

Interview: „Wir dürfen keine Zeit verlieren!“

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Das ‚Energieparadoxon‘ lässt sich nach Meinung von Gwaenelle Avice-Huet nur durch Nachhaltigkeit lösen Das ‚Energieparadoxon‘ lässt sich nach Meinung von Gwaenelle Avice-Huet nur durch Nachhaltigkeit lösen Bild: narawit - stock.adobe.com

Ein Gespräch mit Gwaenelle Avice-Huet, Chief Strategy & Sustainability Officer der Firma Schneider Electric, über Nachhaltigkeit in Smart Homes und IIOT-Lösungen

Gwaenelle Avice-HuetGwaenelle Avice-HuetNachhaltig wollte sie sein, die IFA-Messe 2022 in Berlin im vergangenen September. Doch viele Besucher zeigten sich ernüchtert: Schlüsselbegriffe wie ‚Greentech & Sustainability' hätten oft mehr wie bloße Behauptungen gewirkt [1]; ein Redaktionsmitglied der PLUS stellte die berechtigte Frage, inwieweit sich Elektronikprodukte wie Gemüsezuchtkästen mit WLAN-Konnektivität, Smart Gardening-Produkte [2] oder elektrische Lunchboxwärmer mit Nachhaltigkeitsbekundungen in Einklang bringen ließen. Auf den allermeisten Ständen hätten die vier R-Themen (Reduce, Repair, Reuse, Recycle) keine wirkliche Rolle gespielt – höchstens als ‚Buzzwords'.

Größere Beachtung fand ein Vortrag von Gwaenelle Avice-Huet, Chief Strategy & Sustainability Officer der Elektrotechnik-Firma Schneider Electric. Sie sprach – leider nur virtuell zugeschaltet – über die Notwendigkeit, Nachhaltigkeitsziele rascher zu erreichen ... und zwar durch den Einsatz von mehr intelligenten Lösungen bei der Elektroniksteuerung in Smart Homes und Smart Factories. Ein Thema, zu dem sie sich zur Zeit auf vielen internationalen Plattformen äußert.

Aber es bleiben Fragen. Denn kann dies wirklich die Lösung sein – noch mehr Elektronik, der Nachhaltigkeit willen? Wir hakten wir bei Frau Avice-Huet nach [3]. Das Gespräch führte Markolf Hoffmann.

In Ihrem Vortrag auf der IFA beschrieben Sie das ‚Energieparadoxon', also dass wir einerseits weltweit immer mehr Treibhausgasemissionen produzieren, andererseits aber bis zu 2 Mrd. Menschen zusätzlich mit Energie versorgen müssen, um ihnen Lebensqualität und Bildungschancen zu bieten, um sie wiederum in die Lage zu versetzen, saubere Energie für uns alle zu produzieren. Ist dieses ‚Energieparadoxon' überhaupt lösbar?

Das geht nur durch Nachhaltigkeit. Alle Länder sollten die Möglichkeit haben, ihre Wirtschaft zu entwickeln und das Wohlergehen ihrer Bevölkerung zu fördern, während sie gleichzeitig den Klimawandel bekämpfen. In den Industrieländern erfordert die Beschleunigung der Energiewende eine Beschleunigung der Elektrifizierung und Digitalisierung, die mehr grüne Arbeitsplätze und Chancen für die nächsten Generationen schaffen wird. In weniger entwickelten Ländern ist dies ebenfalls der Fall, aber es werden Lösungen benötigt, um den Zugang zu sauberer und zuverlässiger Elektrizität auf mehr Menschen auszuweiten, die wiederum von mehr Sozial-, Studien- und Arbeitsmöglichkeiten und, einfach gesagt, von einer besseren Lebensqualität profitieren werden.

Ihrer Meinung nach liegt die Lösung für die Dekarbonisierung der Energieversorgung in der Beschleunigung der Elektrifizierung und Digitalisierung des Verkehrs, der Industrie und großer Gebäude. Wie realistisch ist dieses Konzept in einem globalen Maßstab?

Trotz aktueller Zusagen und Bemühungen sind wir weit von dem entfernt, was wir bei den Nachhaltigkeitszielen erreichen müssen. Im Jahr 2021 waren die Energieemissionen so hoch wie nie zuvor. Wir müssen in drei Bereichen der tiefgreifenden Transformation schneller vorankommen: Bei der Umstellung auf erneuerbare Energien, bei der zunehmenden Elektrifizierung der Energieversorgung und bei der Steigerung der Energieeffizienz.

Die derzeitige Energiekrise kann dazu beitragen, wenn Länder versuchen, ihre Bedürfnisse nach Energiesouveränität und -sicherheit zu erfüllen. Die große Frage ist, wie sie ihre Anstrengungen auf diese drei Dimensionen verteilen werden. Während die Dekarbonisierung der Energieversorgung von entscheidender Bedeutung ist, sind wir davon überzeugt, dass wir auf der Nachfrageseite der Energiewende mehr tun sollten, als derzeit geplant ist. Tatsache ist, dass die Lösungen dafür bereits vorhanden sind.

Was die Elektrifizierung der Energienachfrage oder des Energieverbrauchs betrifft, so sind Elektrofahrzeuge ein großartiger Beweis dafür, was möglich und skalierbar ist. Auf den europäischen Märkten, wo die Ladeinfrastruktur besser ausgebaut ist und Anreize und Gesetze die Akzeptanz fördern, übertreffen die Verkäufe von Elektrofahrzeugen inzwischen die von Benzin- und Dieselfahrzeugen. Wir sollten auch die Elektrifizierung von Heizung und Kühlung in Privathaushalten durch ähnliche Anreize, Vorschriften und Gesetze vorantreiben.

Ein weiteres Beispiel, wo wir mehr tun können: Nach Angaben der IEA ist die Industrie mit 8,7 t oder 26 t der weltweit größte Emissionssektor. Da derzeit nur 22 % der Energie in der Industrie elektrifiziert werden, gibt es enorme Möglichkeiten, industrielle Prozesse umweltfreundlicher zu gestalten. Die Elektrifizierung von bis zu 50 % dieser Prozesse ist heute schon möglich, und Digitalisierung in Verbindung mit der Elektrifizierung ist der Weg in die Zukunft.

Auf der Angebotsseite gehen mehr als 60 % der für die Stromerzeugung verwendeten Energie verloren oder werden verschwendet. Insbesondere die mit fossilen Brennstoffen erzeugte Energie ist äußerst ineffizient, während Strom aus erneuerbaren Energien zu 95 % effizient ist! Auf der Nachfrageseite der Energie ermöglichen digitale Technologien mehr Effizienz in Netzen, Gebäuden, im Verkehr oder in Haushalten, indem sie uns weitaus mehr Überwachung und Kontrolle darüber ermöglichen, wie, wann und wo Energie verbraucht wird.

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Sie erwähnen die Notwendigkeit, energieeffizienter zu werden, als entscheidenden Faktor. Müssen Menschen nicht erst umdenken, bevor sie ihren Energieverbrauch im Bereich Smart Home selbst kontrollieren und optimieren?

In der aktuellen Klima- und Energiekrise überdenken die Menschen bereits ihren Energieverbrauch und suchen nach Möglichkeiten, ihn und damit auch ihre Energierechnungen zu senken. Wir beobachten, dass Regierungen Höchsttemperaturen für Thermostate in öffentlichen Gebäuden festlegen und die Arbeitgeber und die Öffentlichkeit im Allgemeinen auffordern, ihre Heizung herunterzudrehen [4]. Intelligente Thermostate, Apps und Geräte geben den Menschen die Möglichkeit, zu sehen, wo Energie verbraucht wird, und sie auf eine maßgeschneiderte Weise zu steuern. Wenn Industrie, Unternehmen, öffentliche Einrichtungen und Einzelpersonen genau sehen, wie und wo sie Energie verbrauchen, können sie gezielte Maßnahmen ergreifen, um ihren Verbrauch zu senken.

Sie sagen, dass Schneider Electric sich auch auf die Nachhaltigkeit der Smart-Home-Komponenten selbst konzentrieren möchte, um deren Wartung und Haltbarkeit zu verbessern.

Als Impact-Unternehmen haben wir uns verpflichtet, an der Verbesserung des CO2-Fußabdrucks, der Lebensdauer und der Kreislauffähigkeit all unserer Produkte zu arbeiten, und wir haben einen klaren Fahrplan mit diesbezüglichen Nachhaltigkeitszielen aufgestellt, die wir kurzfristig erreichen werden, darunter die Einsparung und Vermeidung von 800 Mio. t CO2-Emissionen für unsere Kunden, den Einsatz von 50 % grünem Material in unseren Produkten und 100 % recycelbarem Karton in Verpackungen bis 2025. Wo es möglich ist, ersetzen wir nach und nach herkömmliches Kunststoffmaterial durch recyceltes Material, etwa bei unserer Schalt- und Steckdosenserie Odace. Dies ist aber in der Elektroindustrie nicht immer leicht, da das Material viele Anforderungen erfüllen muss, um unter rauen Bedingungen zu funktionieren. Beim Design unserer Produkte versuchen wir, die Menge der benötigten Rohstoffe zu reduzieren und den Abfall zu minimieren, etwa durch Kombination von zwei Funktionen in einem Produkt.

Zudem versuchen wir bei unseren elektrischen Komponenten eine Cradle-to-Cradle-Zertifizierung zu erhalten [5].

Schneider Electric bietet auch IIOT-Lösungen für Anlagen- und Maschinenbauer an. Was muss sich unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit in der ‚Industrie 4.0' ändern?

Das ungenutzte Energieeffizienzpotenzial in der Industrie beträgt 60 %. Wir können dies durch Automatisierung, Digitalisierung und Energieoptimierung verbessern, um effiziente, nachhaltige und widerstandsfähige Industrien der Zukunft zu schaffen. Die Industrie kann mit Hilfe unserer IIOT-Lösungen für Anlagen- und Maschinenbauer zwei Veränderungen vornehmen kann. Einmal ist dies der Wandel von einem linearen zu einem zirkulären Lieferkettenmodell. Denn Unternehmen stehen vor großen Herausforderungen, wenn sie von ressourcenintensiver Produktion und ressourcenintensivem Verbrauch zu kohlenstoffarmen, effizienten Prozessen übergehen.

Als zweite wichtige Veränderung nenne ich die Integration digitaler Offenheit bei industriellen Abläufen, um etwa Prozesse, IT und Energiemanagement zu vereinheitlichen. Unsere Kunden wollen auf der Grundlage offener Industriestandards arbeiten, um ihre Umweltauswirkungen drastisch zu verbessern, Produktionslinien bedarfsgerecht aufzurüsten, wertvolle Entwicklungszeit zu sparen, Unterbrechungen in der Lieferkette auszugleichen oder lokal verfügbare saisonale Produkte zu verwenden.

Wie kann man die moderne Fertigung in der Elektronikindustrie nachhaltiger und effizienter gestalten?

Es werden weltweit jedes Jahr über 50 Mio. t Elektroschrott erzeugt, von denen jedoch nur 20 % recycelt werden können. Die gesamte Fertigungs- und Prozessindustrie der Welt muss Nachhaltigkeit vollständig in ihre Geschäftsstrategien einbeziehen. Wir müssen uns nicht nur auf die Kostenoptimierung konzentrieren, sondern auch die wichtigen Kennzahlen berücksichtigen. Industrielle Ökoeffizienz, Abfallreduzierung, Energiemanagement, verantwortungsvoll beschaffte Materialien, regeneratives Design und Kreislaufwirtschaft können dazu beitragen, die biologische Vielfalt zu schützen, Arbeitnehmer zu befähigen und zu schützen und in unserer gesamten Wertschöpfungskette eine Netto-Null-Emission zu erreichen.

Trauriges Ende einer Leiterplatte – im ElektroschrottTrauriges Ende einer Leiterplatte – im ElektroschrottSchneider Electric besitzt und betreibt weltweit 200 intelligente Fabriken und 100 intelligente Distributionszentren. Wir sind bestrebt, mit gutem Beispiel voranzugehen und die eigenen Technologien und Dienstleistungen an unseren Standorten einzusetzen. Das Weltwirtschaftsforum hat sechs unserer Smart Factories als ‚Leuchttürme' der vierten industriellen Revolution bezeichnet, stuft fünf als ‚fortschrittlich' ein – in Hyderabad (Indien), Le Vaudreuil (Frankreich), in Wuxi (China), in Lexington (Kentucky) und in Batam (Indonesien) – und zwei als ‚nachhaltig' (Le Vaudreuil und Lexington).

Unser Werk in Le Vaudreuil in Frankreich ist ein Beispiel für konvergierte Energie und Automatisierung. Auf der Grundlage der EcoStruxure-Technologie nutzt die Anlage eine breite Palette digitaler Tools zur Verbesserung und Steuerung des Betriebs [6]. ‚Augmented Reality' beschleunigt den Betrieb und die Wartung, was zu Produktivitätssteigerungen von bis zu 7 % führt, während Energieinnovationen zu Einsparungen von bis zu 30 % führen.

Wir unterstützen unsere Kunden auch bei ihren Betrieben und Fabriken. Eines der Beispiele ist die Aufrüstung des Stromverteilungssystems des Glasproduzenten Guardian Glass, um die Effizienz zu steigern. Dank unserer EcoStruxure-Lösungen erreichte das Unternehmen einen Leistungsfaktor von bis zu 97,5 % und erhielt bereits in den ersten vier Monaten 50.000 $ an Gutschriften von Versorgungsunternehmen. Darüber hinaus haben wir ExxonMobil dabei unterstützt, fortschrittliche Technologien in einem konvergierten IT/OT-Industriesteuerungssystem im Jahr 2020 zu testen.

Am 8. November 2022 sprachen Sie auf dem ‚Corporate Knights'-Treffen von 57 globalen Unternehmen über die aktive Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträgern, um die Umsetzung der Pariser Klimaziele zu optimieren [7]. Konnten Sie bei diesen Gesprächen konkrete und umsetzbare Ergebnisse erzielen?

Öffentliche und private Partnerschaften sind von entscheidender Bedeutung, um die Dekarbonisierung zu beschleunigen und uns möglicherweise auf den Weg zu bringen, die globale Erwärmung auf 1,5°C zu begrenzen. Unternehmen spielen eine wichtige Rolle, aber bei Nachhaltigkeitszielen können wir nur durch kollektive Anstrengung siegen! Schneider Electric ist Mitunterzeichner des offenen Briefes des ‚World Economic Forum Alliance of CEO Climate Leaders' [8], in dem Regierungen und Unternehmen aufgefordert werden, die Verantwortung für den Klimaschutz gemeinsam zu tragen: Erstens durch die Festlegung wissenschaftlich fundierter Ziele, zweitens durch den Beitrag zur Entwicklung von international harmonisierten Berichtsstandards und drittens durch die Verpflichtung, die Anliegen von Klima und Jugend miteinander zu vereinen.

Das reicht nicht aus, um bei der CO2-Einsparung Netto-Null zu erreichen, und wir wissen, dass wir mehr tun können und müssen, um die Nadel zu bewegen. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren! Die nächsten zehn Jahre sind die wichtigsten, um die richtigen Weichen zu stellen.

Referenzen

[1] Die Online-Redakteurin Stefanie Bressem ordnete sie im Vorfeld trocken als ‚unter ferner liefen' ein, vgl. www.handyhase.de/magazin/ifa-nachhaltig/.
[2] www.bosch-home.com/de/shop/smart-indoorgardening
[3] www.se.com/ww/en/about-us/newsroom/experts/details/gwenaelle-avice-huet-62178581f9c608446d2a9904
[4] Wie Firmen selbständig ihren Energieverbrauch zügeln zeigt etwa die Firma Kraus Hardware, PLUS 12/2022, S. 1623f.
[5] www.sempergreenwall.com/de/faq/was-ist-cradle-to-cradle/
[6] www.se.com/de/de/work/campaign/innovation/platform.jsp
[7] www.corporateknights.com
[8] www.weforum.org/agenda/2021/10/cop26-ceo-climate-alliance-message-to-world-leaders/

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