Europas Leiterplattenindustrie schlägt Alarm: Durch Wettbewerbsnachteile sieht sie sich stark unter Druck.
Uitikon bei Zürich am 8. Oktober: Schon bei der Eröffnung des berühmten Forums Leiterplatte Schweiz gab es ein beherrschendes Thema. Am Vortag hatte Würth Elektronik Circuit Board Technology, Leiterplattenhersteller im baden-württembergischen Niedernhall, auf einer Betriebsversammlung verkündet, eines seiner Leiterplattenwerke zu schließen – jenes in Schopfheim, aufgrund der laut Pressemitteilung „schwersten Krise in der Geschichte der Leiterplattenindustrie Europas“.[1] Betroffen von der Standortkonsolidierung sind 300 Mitarbeiter. Die bittere Entscheidung sorgte auch in Uitikon für gedrückte Stimmung bei den schweizerischen Mitbewerbern. Zunächst ging Pascal Oberson, Vorsitzender des Vereins Leiterplatte Schweiz, in seiner Eröffnungsrede auf die Hiobsbotschaft aus Schopfheim ein. Auch der erste Vortrag von Remo Fischer, Hofstetter PCB Plating, kommentierte die angekündigte Schließung mit düsteren Worten. Kurz war eine gewisse Niedergeschlagenheit auf dem Leiterplattenforum zu spüren. Und das, obwohl Schweizer bekanntlich nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen sind.
Dazu passten leider die Zahlen für 2023, die Remo Fischer vortrug.[2] Auch der NTI-100-Report von Dr. Hayao Nakahara hatte einen Rückgang von Europas Leiterplattenindustrie gegenüber 2023 konstatiert. [3] Dass diese seit Jahren unter enormem Druck steht, zahlreiche Firmen ihre Produktion v. a. nach Asien ausgelagert oder sich schlichtweg aus dem Markt zurückgezogen haben, ist zwar keine Neuigkeit. Neu ist aber, dass Europas verbliebene Leiterplattenproduzenten deutlicher als je zuvor die aktuelle Krise ansprechen … und vor den Folgen warnen, die ein weiterer Rückgang bedeuten könnte.
Auftakt war ein Artikel von Joachim Hofer im Handelsblatt vom 13. Februar 2024.[4] Darin hatte Nicolas-Fabian Schweizer, Geschäftsführer von Schweizer Electronic und Vorsitzender des ZVEI-Fachverbands PCB and Electronic Systems, zum Ausdruck gebracht, dass es „fünf vor zwölf für unsere Industrie in Europa“ geschlagen habe. 2022 sei bereits der europäische Anteil am Weltmarkt für Leiterplatten auf weniger als 3 % gesunken – von einst 20 % Anfang des Jahrtausends. Selten sei die Lage so ernst gewesen wie jetzt, warnte Nicolas-Fabian Schweizer: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht völlig an Bedeutung verlieren.“ Im gleichen Artikel hatte Thomas Michels, Geschäftsführer des Leiterplattenherstellers ILFA aus Hannover, auf die Absurdität hingewiesen, dass der Bedarf an Leiterplatten in Europa die produzierte Menge um ein Vielfaches übersteige. Doch die meisten Kunden – die selbst Kostenzwängen unterliegen – beziehen ihre Leiterplatten günstig aus Fernost. Um nicht den Anschluss an Asien zu verlieren, seien gewaltige Investitionen nötig, wie Nicolas-Fabian Schweizer und Thomas Michels beide betonen. Wenn Leiterplatten aus Europa preislich attraktiver werden sollen, müssten bessere Rahmenbedingungen herrschen – und nötige Investitionen finanzierbar sein.
Am 24. April 2024 sorgte eine Initiative des EIPC (European Institute fort the PCB Community) für Aufmerksamkeit: Das EIPC bat darum, einen ‚Brief großer Dringlichkeit' (Letter of Urgency to the PCB community) zu unterzeichnen.[5] Der Brief hebt hervor, dass die Leiterplatte allgegenwärtig und integraler Bestandteil fast aller elektronischen Produkte sei. Der Rückgang der europäischen Leiterplattenproduktion habe sich auf die Lieferkette für Basismaterialien ausgewirkt – und diese beginne nun in Asien. Anders als bei den Initiativen zur Unterstützung der Si-Chip-Industrie (European Chips Act) gebe es für die Leiterplatte nichts Vergleichbares. Ein weiterer Rückgang der Leiterplattenproduktion in Europa würde den Kontinent in eine neue Abhängigkeit manövrieren, auch bei strategisch empfindlichen Bereichen wie der Verteidigungs-, Luft- und Raumfahrtindustrie. Das EIPC empfahl im Anschluss, den Brief zu unterzeichnen – er soll Regierungen zur Unterstützung der europäischen Leiterplattenindustrie bewegen: durch wettbewerbsfähige Energiepreise, Steuervergünstigungen, erleichterte Sicherheiten für Banken und Geschäftsbanken, ein Engagement bei Institutionen der Europäischen Union, Strafzölle auf importierte Rohstoffe abzuschaffen und das Ökosystem der europäischen Elektronikfertigung zu stärken. Der Brief des EIPC sorgte für Aufmerksamkeit, unter anderem schloss sich der Fachverband Elektronikdesign FED dem ‚Brandbrief' des EIPC an. [6] Laut Kirsten Smit-Westenberg, EIPC, haben bislang 172 Firmen den Brief unterzeichnet, und er konnte im Juni auf einem Meeting in Brüssel diskutiert werden. Es bleibe aber eine anhaltende Aufgabe, bei der Politik Gehör zu finden.
Auch Andreas Brüggen, einer der Geschäftsführer des Leiterplattenherstellers Precoplat in Krefeld, setzte seine Unterschrift unter den ‚Letter of Urgency'.[7] Precoplat hatte selbst vorab am 2. Juli 2024 in einer Pressemitteilung den Zeiger der ‚tickenden Uhr' des Handelsblatt-Artikels nochmal nach vorne gedreht: Es sei inzwischen „eine Minute vor zwölf für die europäische Leiterplattenindustrie“.[8] Standortnachteile und der chinesische Wettbewerb, der mit Dumpingpreisen den Markt dominiere, treibe Deutschlands Leiterplattenindustrie in den Ruin. Im persönlichen Gespräch beim Firmenbesuch der PLUS hob Andreas Brüggen hervor, dass es in Zeiten geopolitischer Herausforderungen fatal wäre, wenn auch noch die verbleibenden Akteure der europäischen Leiterplattenindustrie das Handtuch werfen müssten.
Alle Menetekel scheinen jedoch bislang wenig bewirkt zu haben. Entsprechend wurde die fatale Nachricht aus Schopfheim als Schock empfunden. Wenn auch bei einzelnen Gesprächen der PLUS-Redaktion im Nachgang zu hören war, dass nicht jeden die Meldung überrascht habe.
Die Gründe für die Krise lassen sich aus den oben genannten Wortmeldungen schnell ausmachen. Eine Kombination von Wettbewerbsnachteilen – hohe Energiekosten, bürokratische Hemmnisse, sich verschärfende Regularien, Zölle auf bestimmte Basismaterialien – treffen auf eine insgesamt negative Marktlage. Dies schlägt sich in einem erheblichen Rückgang der Auftragseingänge nieder, da die Kunden der europäischen Leiterplattenindustrie selbst unter enormem Druck stehen. Auch wenn diesen durchaus bewusst ist, was ein Niedergang der Leiterplattenindustrie bedeuten könnte. Beispielhaft hierfür sei der Kommentar von Julia Gelsebach, CESYS, genannt [9] – und die Wortmeldung von Michael Hannusch, Hannusch Industrieelektronik, im ‚Gepräch des Monats': Man begebe sich wieder in eine gewisse Abhängigkeit – von Asien.[10] Aber aufgrund des Preisdrucks sei es Kunden oft schwer möglich, auf ‚heimische' Leiterplatten zurückzugreifen.
Was ist zu tun?
Bewertet man die Gesamtlage aller Wortmeldungen, bleibt es ohne Frage zentral, den Weckruf der Leiterplattenindustrie nicht ungehört verhallen zu lassen. Hier sollten Verbände und auch Presseorgane Ausdauer zeigen – gerade in Zeiten des schnelllebigen Medienwandels, wo Initiativen schnell untergehen, in Vergessenheit geraten oder abgetan werden. Wichtig ist aber auch eine vertiefende Diskussion über die Ursachen. Als Beispiel sei genannt, ob sich die europäische Industrie nicht selbst durch Auslagerung vieler Fertigungen nach Asien einen Bärendienst erwiesen hat. Auch sind viele der kritisierten Regularien (Konfliktmineralverordnung, Critical Materials Act, Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz u. a.) als Reaktionen auf dringliche Probleme unserer Zeit zu werten [11] – die kaum einer bestreitet. Doch inwiefern sie ohne Regularien zu lösen sind, weiß niemand zu sagen. Ebenso sind die Kunden der Leiterplattenindustrie gefragt, ihre Position hörbar zu machen.
Die PLUS wird auf jeden Fall weiter den Stimmen nachhorchen, die sich mit der Krise der Leiterplattenindustrie beschäftigen. In Anlehnung an den ‚Letter of Urgency' fordern wir als ‚Einladung von großer Dringlichkeit' die Leser auf, sich an einer tiefergehenden Diskussion zu beteiligen – mit einem Leserbrief (auch gerne per E-Mail) oder einem Gespräch auf der electronica. Zum Auftakt drucken wir im Anschluss zwei Kommentare von Dirk Stans, Eurocircuits, und Julia Gelsebach, CESYS – und hoffen auf weitere.
Referenzen
[1] Siehe PLUS 10/2024, S. 1186.
[2] Ein ausführlicher Bericht über das Forum Leiterplatte Schweiz folgt in einer kommenden Ausgabe der PLUS.
[3] Siehe PLUS, 10/2024, S. 1223.
[4] Joachim Hofer, ‚Es ist fünf vor zwölf für unsere Industrie in Europa', Handelsblatt, 13. Februar 2024, S. 34.
[5] https://www.eipc.org/Letter-of-urgency (Abruf: 30.10.2024).
[5] Siehe PLUS 8/2024, S. 954.
[7] Siehe S. 1362.
[8] www.precoplat.de/eine-minute-vor-zwoelf/ (Abruf: 30.10.2024).
[9] Siehe S. 1373.
[10] Siehe S. 1448.
[11] Siehe PLUS 5/2024, S. 462.