‚All-Electric-Society‘: Chancen und Herausforderungen

‚All-Electric-Society‘: Chancen und Herausforderungen

Der ZVEI hat mit seinem Zielbild der ‚All-Electric-Society' eine Vision für die Zukunft entwickelt. Auf dem ZVEI-Jahreskongress 2023 wurde von hochkarätigen Personen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft erörtert, wo wir aktuell stehen, welche Herausforderungen als nächstes zu lösen sind und welche Chancen sich ergeben. Um die Klimaziele zu erreichen, ist noch viel zu tun.

Über 600 Teilnehmer haben die zweitägige Veranstaltung mit sieben Diskussionsrunden, elf Keynotes und Vorträgen sowie einem Rahmenprogramm besucht. Drei Mitglieder der Bundesregierung und eine Ministerpräsidentin waren unter den Vortragenden. Das Feedback war durchweg positiv. Die Stimmung war sehr gut, denn es gab nicht nur viel Applaus, sondern auch manchen Lacher.

In den Vorträgen und Diskussionen ging es um die Chancen von Elektrifizierung, Digitalisierung, KI und Zukunftstechnologien wie Manufacturing-X. ‚Machen ist wie wollen, nur krasser' ist eine der beim ZVEI-Jahreskongress in Berlin gelernten Lektionen. Alle waren sich einig: Mit der grünen und digitalen Transformation muss es endlich losgehen. Denn Zeit vergeuden geht nicht mehr. Diese Botschaft hat der ZVEI unmissverständlich an die Politik adressiert. „Wir sind überzeugt: Die Klimaziele sind erreichbar und der Umbau in eine klimaneutrale Industriegesellschaft kann gelingen“, sagte zum Auftakt der am Vormittag vom ZVEI-Vorstand in seinem Amt für drei weitere Jahre bestätigte ZVEI-Präsident Dr. Gunther Kegel. „Die nächste gewaltige Welle der Elektrifizierung ist im Gange.“

Elektrisch, digital, nachhaltig: Wie wir das erreichen

Nach der Eröffnung durch die Moderatorin Astrid Frohloff ging Dr. Kegel in seiner Eröffnungsrede auf die Notwendigkeit der Kreislaufwirtschaft nicht nur in Europa ein. Denn die Klimaziele sind nur so erreichbar. Die Energiewende ist eine Energieeffizienzwende. Dazu ist ein wettbewerbsfähiger Strompreis für alle nötig. Ein digitaler Pass für Produkte ist eine Grundvoraussetzung für die Kreislaufwirtschaft.

Anschließend folgte die Keynote von MdB Steffi Lemke, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz. Wegen der Umweltrisiken durch Klimawandel, Verschmutzung und Artensterben müssen der gesamte Produktlebenslauf betrachtet und neue Lösungen entwickelt werden. Dazu gehören neue Ökodesignrichtlinien, die auch die Reparaturfähigkeit von Produkten fordern.

Moderiert von Astrid Frohloff schloss sich die Diskussion ‚Digitalisierung' an, bei der, da die Nachhaltigkeit im Fokus war, auch das geplante PFAS-Verbot und seine Auswirkungen zur Sprache kamen. Steffi Lemke und Dr. Gunther Kegel waren sich hinsichtlich der Digitalisierung einig, dass der Digitale Produktpass anstelle von Papierdokumenten kommen wird, denn er ist ein entscheidender Schlüssel zur Nachhaltigkeit.

Dr. Gunther Kegel, Steffi Lemke und Astrid Frohloff bei der Diskussion ‚Digitalisierung‘Dr. Gunther Kegel, Steffi Lemke und Astrid Frohloff bei der Diskussion ‚Digitalisierung‘

Wo Deutschland Spitze ist und wo (noch) nicht

In Impulsvorträgen zeigten Cedrik Neike, Mitglied des Vorstands von Siemens und ZVEI-Vizepräsident, MdB Dr. Volker Wissing, Bundesminister für Digitales und Verkehr, und Jochen Hanebeck, Vorstandsvorsitzender von Infineon, auf, wo Deutschland steht und welche Chancen es hat.

Cedrik Neike schilderte zuerst die Situation in Deutschland und weltweit. In Deutschland: modernste 5G-Fabrik aber nicht überall Mobilfunknetz sowie Überregulierung und bislang nur ein Drittel der Technik elektrifiziert, davon wiederum nur ein Drittel mit erneuerbarer Energie. Weltweit: mehr Fabriken denn je werden gebaut und in den G7-Ländern scheiden mehr Menschen aus dem Arbeitsleben aus als nachfolgen. Die Welt liebt die IT (Informationstechnik) läuft aber mit der OT (operationalen Technik). Er sagte, dass es im derzeitigen goldenen Zeitalter der Automatisierung und Digitalisierung gilt, die IT und die OT zusammenzubringen. Er verdeutlichte, was dies für die Praxis bedeutet am Beispiel der Batterietechnik, dem Herzstück der Elektrofahrzeuge und für deren Hersteller. Obwohl die Technik noch nicht ausgereift ist, laufen bereits die Planungen für 175 Gigafactories weltweit. Problematisch sind v. a. der hohe Wasserverbrauch und Ausschuss der Produktion. Die Prozesse Design, Produktion und Recycling der Batterien müssen von Anfang an durchdacht werden, um die Batterietechnik zu optimieren. Mit Digitalen Zwillingen von Produkten, Maschinen und Fabriken sowie KI (Künstlicher Intelligenz) sind schnelle Optimierungen in Richtung grüner Batterien realisierbar. Hier hat Deutschland die Chance mit seinen Stärken im Engineering die IT und die OT zusammenzubringen, um optimale Lösungen anbieten zu können und Spitze zu werden, wozu u. a. die ZVEI-Initiative Manufacturing-X beitragen soll.

Jochen Hanebeck betonte, dass die Wasserstofftechnik benötigt wird, um eine umfassende Dekarbonisierung zu ermöglichen. Zudem sind in Verbindung mit der Digitalisierung neue Konzepte gefragt.

„Der Umbau in eine klimaneutrale Industriegesellschaft kann gelingen.“
ZVEI-Präsident Gunther Kegel

Alles im Fluss: Wie das Strommarktdesign der Zukunft aussehen muss

Der Ausbau der erneuerbaren Energien und die Digitalisierung der Netze müssen weiter forciert werden. Denn die Elektrifizierung auf Basis erneuerbarer Energien, die Digitalisierung der Netze und die intelligente Kopplung insbesondere der klimarelevanten Sektoren Energie, Mobilität und Gebäude ermöglichen enorme Einspar- und Effizienzpotenziale und öffnen den Weg zur Klimaneutralität. An den Impulsvorträgen und der Diskussion über den Strommarkt der Zukunft beteiligten sich Prof. Dr. Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrates, Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur (online) und Wolfgang Weber, Vorsitzender der Geschäftsführung des ZVEI. Der Strompreis bzw. dessen Entwicklung ist dabei im Fokus. Generell ist die unternehmerische Initiative zu stärken und die Überregulierung aufzulösen.

Frische Ideen: Wie wir eine Innovationskultur schaffen

Lea Emmel, Risk Manager von Dräger, Doris Höpfl, Mitglied des Vorstands von Harting, MdB Tilman Kuban, CDU/CSU-Fraktion und Michael Marhofer, Vorstandsvorsitzender von ifm electronic, diskutierten, wie eine Innovationskultur geschaffen werden kann.

Verleihung des ‚Electrifying Ideas Award'

Dr. Robert Habeck bei der KeynoteDr. Robert Habeck bei der KeynoteNach der Vorstellung der Finalisten des ‚Electrifying Ideas Awards' und einem Get-together als Warm-up folgte die Preisverleihung, die Dr. Gunther Kegel mit einer Einführung eröffnete. Die ‚Electrifying Ideas Awards' wurden erstmals verliehen. Mit dem Preis prämiert der ZVEI Ideen, die uns auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft weiterbringen können. Es gab insgesamt 65 Einreichungen. Eine unabhängige Jury, besetzt mit hochkarätigen Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Forschung, Politik und Gesellschaft hat davon sechs Unternehmen für den ersten ‚Electrifying Ideas Award' nominiert. „Die Anzahl und die Qualität der eingereichten Ideen war beeindruckend – zumal wir den Preis in diesem Jahr erst aus der Taufe gehoben haben“, sagte ZVEI-Präsident Dr. Gunther Kegel. „So vielfältig die nominierten Projekte sind, haben sie gemeinsam, dass sie uns auf dem Weg in die All-Electric-Society ein gutes Stück voranbringen werden. Dass sie uns dabei unterstützen, Ressourcen besser zu nutzen, Prozesse zu vereinfachen oder Energie schlauer zu verteilen. Die beiden Gewinner-Ideen zeigen das ganz besonders. Beide haben hohes Innovationspotenzial und können dazu beitragen, die Energiewende im Gebäudesektor bzw. die nachhaltige Wasserstoffzukunft voranzubringen.“

Vor der Preisübergabe ging MdB Dr. Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, in einem Keynote-Vortrag auf die durch den Klimawandel und andere Krisen geprägte Situation und die geplanten Maßnahmen ein. Er sagte, nachdem er zuvor die Ausstellung besucht hatte: „Großartig zu sehen, was passiert. Danke für diese Arbeit, dass Sie Deutschland zeigen, was Transformation bedeuten kann und umsetzen, was politisch und gesellschaftlich immer nur beschrieben wird. Große Leistung.“ Später fuhr er fort: „Der weltweite Wettbewerb um die neuen grünen Technologien hat längst begonnen. Wir müssen uns verändern, weil die Welt sich verändert. Sonst gefährden wir den Wohlstand.“ Der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netzausbau müsse forciert werden, wobei die Versorgungssicherheit und die Bezahlbarkeit berücksichtigt werden müssten. Hier sei Pragmatismus im Vorgehen aber Klarheit beim Ziel gefragt. Das ökonomische Ziel ist, den Wohlstand zu erneuern. Er dankte abschließend dem ZVEI für dessen auf die All-Electric-Society ausgerichteten Aktivitäten als Beitrag hierzu.

Preisverleihung an die Hager GroupPreisverleihung an die Hager GroupIn der Kategorie „Etablierte Unternehmen“ gewann die Hager Group für ihre Idee eines Peer-to-Peer-Leistungshandels, ein dezentrales und selbstregulierendes Energiesystem in Wohnquartieren. „Das Ziel dieser Idee: Energie gerechter verteilen. Wer wenig verbraucht, kann Leistung verkaufen und Erlöse erzielen. Dadurch können sich alle Haushalte an der Energiewende beteiligen. Zudem können Investitionen in den Netzausbau reduziert werden“, erklärte Daniel Hager, Vorstandsvorsitzender der Hager Group, das Konzept.

Grüner Wasserstoff ist mit Blick auf die Energiewende in aller Munde. Seine Produktion soll durch Elektrolyse in den nächsten Jahren stark ausgebaut werden. Hier setzt die Idee der Semodia GmbH an, welche sich in der Kategorie ‚Newcomer' durchsetzen konnte. „Elektrolyseanlagen müssen in Zukunft im großen Maßstab skalierbar sein“, sagte Anna Menschner, Mitgründerin und Geschäftsführerin von Semodia. „Nutzt man dabei den Module Type Package (MTP) Standard, wird die Planung, Inbetriebnahme und das Numbering-up stark vereinfacht und deutlich beschleunigt. Damit wird die Kapazität im hohen Gigawattbereich schnell und ressourcenschonend aufgebaut.“

An die Übergabe der ‚Electrifying Ideas Awards' schloss sich ein Talk der Preisträger mit Bundesminister Dr. Robert Habeck an. Mit einer Abendveranstaltung endete der erste Tag.

Tenor des zweiten Tags: Nachhaltig erfolgreich – Wir schaffen das!

Mit einer Keynote von MdB Lars Klingbeil, Bundesvorsitzender der SPD, wurde der zweite Konferenztag eröffnet. Er merkte zum geplanten GEG und angesichts des dringend erforderlichen aber schleppenden Energienetzausbaus an, dass die Koalition daran gemessen wird und sagte: „Kleine Schritte können wir uns nicht mehr leisten.“ Er konstatierte im Hinblick auf die regulatorischen Forderungen: „Wir brauchen ein Europa fast“. In der anschließenden Diskussion zur ‚Zeitenwende für die Industrie: Ein Booster für die Industriepolitik' mit Dr. Sarah Schniewindt, Geschäftsführerin von Schniewindt, wurde die Thematik vertieft.

In Impulsvorträgen und einer Podiumsdiskussion wurden die Möglichkeiten, Anforderungen und Chancen für mehr gemeinsame Gestaltungskraft in der Europäischen Union von Matthias Altendorf, CEO von Endress+Hauser, Mikko Huotari, Direktor von Merics, MdEP Angelika Niebler, Fraktion der Europäischen Volkspartei, und Laurent Tardif, Präsident von FIEEC erörtert.

Laurent Tardif, Angelika Niebler, Mikko Huotari, Matthias Altendorf und Astrid Frohloff diskutierten über die Zeitenwende für EuropaLaurent Tardif, Angelika Niebler, Mikko Huotari, Matthias Altendorf und Astrid Frohloff diskutierten über die Zeitenwende für Europa

Anke Rehlinger, Ministerpräsidentin des SaarlandesAnke Rehlinger, Ministerpräsidentin des SaarlandeÜber Zukunftstechnologien und insbesondere welchen Nutzen Manufacturing-X und DC-Industrie haben werden, diskutierten MdB Dr. Lukas Köhler, Stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, Dr. Frank Possel-Dölken, CDO und Mitglied der Geschäftsführung von Phoenix Contact, und Philipp Steinberger, CEO von Wöhner, nachdem sie hierzu kurze Statements abgegeben hatten.

In den Abschlussvorträgen zeigten Anke Rehlinger, Ministerpräsidentin des Saarlandes, und Stephan von Schuckmann, Mitglied des Vorstands der ZF Group, anhand von Beispielen auf, wie ‚Nachhaltig erfolgreich' realisiert werden kann und sie sind sich sicher „Wir schaffen das!“.

Nach der Mittagspause gab es als ‚Interaktive Round Table Sessions' moderierte Diskussionen zu Künstlicher Intelligenz/Data Science von Endress+Hauser, zur Cyber Security von Phoenix Contact, zur Supply Chain von PTC und zum Digital Twin von Rittal. Dies war eine gute Gelegenheit, sich mit den Experten über diese Themen auszutauschen.

Dass die Politik den passenden Rahmen für den Umbau in eine klimaneutrale Industriegesellschaft bereitstellt, der unternehmerische Initiative ermöglicht und nicht durch Überregulierung erstickt, kann nach dem Kongress etwas optimistischer bewertet werden. Denn die Politik weiß um bestehende Schwächen und verspricht Abhilfe. Die ‚All-Electric-Society‚' weist den Weg.

Der Termin für den nächsten ZVEI-Jahreskongress ist der 16. und 17. Mai 2024 in Berlin.

Lebhafte Diskussion bei den Interaktive Round Table SessionsLebhafte Diskussion bei den Interaktive Round Table Sessions

  • Ausgabe: Juli
  • Jahr: 2023
  • Autoren: Gustl Keller
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