Seit 15 Jahren gehen Experten aus dem Umfeld der Elektronikproduktion zusammen mit Anwendern regelmäßig ,in die Tiefe'. Anfangs tatsächlich mit Bergwerksbesuch, im Laufe der Jahre nur noch im übertragenen Sinne in Form sehr fundierter Vorträge. Nach dem Ausfall 2020 fand die Traditionsveranstaltung nun Ende September 2021 wieder statt – erstmals in Leipzig.
Nach der Pandemie-bedingten Absage im Vorjahr war die Freude groß, dass die Veranstaltung ,Wir gehen in die Tiefe' 2021 wieder stattfinden konnte. Wie gewohnt wurden aktuelle Themen in der Tiefe erörtert und dabei auch ein Ausblick auf die weitere Entwicklung gegeben.
Die Veranstaltung mit insgesamt zwölf Vorträgen wurde wie in den Vorjahren von Thorsten Schmidthausen, 2ndMax GmbH, zusammen mit den Partnerfirmen ASM Assembly Systems GmbH & Co. KG, ASYS Automatisierungssysteme GmbH, Christian Koenen GmbH, Heraeus Deutschland GmbH & Co. KG, Rehm Thermal Systems GmbH, Vliesstoff Kasper GmbH und Zevac AG Deutschland organisiert. Diese beteiligten sich auch an der begleitenden Ausstellung. Moderiert wurden die Vorträge von Prof. Dr. Mathias Nowottnick, Universität Rostock.
Herausforderungen beim Bestücken
Im ersten Vortrag erläuterte Norbert Heilmann, ASM Assembly Systems GmbH & Co. KG, die Herausforderungen beim Bestücken durch neue Trends in der AVT. Die Entwicklung in der Elektronik führt dazu, dass das Bauteilspektrum, das verarbeitet werden muss, immer größer und vielfältiger wird. So kommen durch die Leistungselektronik vermehrt große, schwerere und THT-Bauteile zum Einsatz. Parallel dazu schreitet die Miniaturisierung in der SMT mit noch kleineren passiven Bauelementen und Chips weiter fort. Um dies alles verarbeiten zu können, benötigen die Bestückungsmaschinen noch leistungsfähigere Sensoren und smarte Algorithmen. Hochauflösende Kameras und große Sichtfelder werden zum Erkennen von Fehlern oder beschädigten Bauteilen vor dem Bestücken immer wichtiger. Die Kontrolle vor dem Löten, dass alle Bauteile korrekt bestückt wurden, gewinnt an Bedeutung. Für die Montage komplexer Bauteile bzw. die Bestückung komplexer Baugruppen werden spezielle Abläufe beim Bestücken, wie z. B. Reihenfolge, unterschiedliche Bestückebenen und Passermarkenauswertung für unterschiedliche Zielsetzungen notwendig. So werden LED und Lidar-Bauteile mit ihrer Licht emittierenden Fläche nach Langlöchern und Bohrungen oder nach Kerben ausgerichtet und die anderen Bauteile nach den geätzten Kupfermarken. Das Ziel der Weiterentwicklungen ist, sowohl SMT- als auch THT-Bauteile aller Bauformen möglichst zu 100 % vollautomatisch bestücken zu können.
Smarte Fabrik basiert auf standardisierten Schnittstellen
Dr. Kai Kammers, Asys GmbH, erörterte die Frage: ,Plug&Play Smart Factory durch standardisierte Datenschnittstellen – Wunsch oder Wirklichkeit?' Dazu ging er zuerst auf die Entwicklung der Datenschnittstellen und die entsprechenden Standards für die Fabrikautomatisierung ein. Dann verdeutlichte er, dass die Standardisierung bzw. standardisierte Lösungen nur die Voraussetzung für die Realisierung smarter Fabriken sind. Denn diese laufen der Entwicklung naturgemäß hinterher und bringen alle auf das gleiche Niveau. Sie sind eine (Ausgangs-)Basis. Smart fordert aber mehr. Deshalb ist zusätzlich eine (selbst gelebte) kontinuierliche Verbesserung für die smarte Fabrik von Morgen nötig.
Schutz von elektronischen Baugruppen
Gianfranco Sinsitra, Rehm GmbH, zählte in seinem Beitrag über Dispensing und Coating zum Schutz von elektronischen Baugruppen zunächst die Gründe auf, die für den Schutz der sensiblen Elektronikbaugruppen bei vielen Anwendungen sprechen. Ohne Schutzbeschichtung besteht bei Kombinationen aus geringen Leiterabständen, Rückständen und Feuchtigkeit ein erhöhtes Risiko für Dendritenwachstum und somit Ausfällen der Elektronik. Aber auch die Schutzbeschichtung hat ihre Tücken wie mögliche Blasenbildung, Pinholes, Delamination, Rissbildung, Entnetzungen und Orangenhautbildung sowie Kantenflucht und Lackspritzer. Gianfranco Sinsitra erläuterte diese und die Vorteile einer vorausgehenden Reinigung, bevor er anhand von Produkten seines Unternehmens aufzeigte, welche Lösungen heute verfügbar sind bzw. wie ein perfektes Lackmanagement und sichere Prozesse realisiert werden können.
Pastendruck auf verschiedenen Ebenen
Auch auf nicht planen Oberflächen können per Druck in Volumen und Position hochpräzise Materialdepots wiederholbar und schnell aufgebracht werden. Michael Zahn, Christian Koenen GmbH, erklärte, wie ein Präzisionsdruck auf unebenen Oberflächen erfolgen kann. Anhand von Beispielen aus Kundenprojekten wurden die entwickelten Lösungen für das Drucken über Erhebungen sowie für das Drucken in Kavitäten (bis zu 2 mm Tiefe) beschrieben. Hierzu werden speziell designte Druckschablonen (z. B. Stufenschablonen) und geschlitzte Rakel eingesetzt. Zudem sind angepasste Druckparameter erforderlich. Die Christian Koenen GmbH entwickelt nicht nur die benötigten Druckwerkzeuge sondern den kompletten Druckprozess.
Zuverlässige räumliche Elektronik
Nach der Mittagspause gab Maximilian Barth, Hahn-Schickard-Gesellschaft für angewandte Forschung e. V. einen Überblick über die Aufbau- und Verbindungstechniken für zuverlässige räumliche Elektronik. Ausgehend von den Besonderheiten beim Lotpastenauftrag und Bestücken dreidimensionaler Substrate zeigte er die Probleme auf und stellte u. a. eine Rolle-zu-Rolle-Linie für MID vor. Die Vielfalt der möglichen Materialien und Prozesse für räumliche Elektroniken erfordert viel Erfahrung bei der Materialauswahl und beim Design. Durch Variation der Verbindungsgeometrien kann die Zuverlässigkeit beeinflusst werden. Die Prognose der Zuverlässigkeit räumlicher Elektronik erfolgt mittels Simulationen und Lebensdauermodellen auf Basis von Zuverlässigkeitstests, wobei die Simulationen genaue Kenntnisse der Geometrien und Verbindungsstellen erfordern. Maximilian Barth informierte abschließend über die bisherigen Arbeiten seines Instituts zur Zuverlässigkeit und Lebensdauermodellierung für MID.
Drucker in der autonomen Fabrik
Die Herausforderungen an den Drucker in der autonomen Fabrik zeigte Torsten Vegelahn, EKRA Automatisierungssystem GmbH, auf, d. h. was bedacht werden muss, um den Druckprozess in der autonomen Fabrik erfolgreich betreiben zu können. Um vom heutigen Zustand, bei dem ohne einen Bediener, der die Maschine rüstet, nichts geht, hierhin zu kommen, gibt es mehrere Niveaus:
- Level 1: Die autonome Maschine führt den eigentlichen Rüstwechsel selbständig, ohne Bediener durch. Der Bediener bereitet die Maschine(n) während der Produktion vor.
- Level 2: Bei der autonomen Linie erfolgt zudem die Zu- und Abfuhr der Materialien und Werkzeuge (Beschickung der Anlage) durch ein autonomes System (APA: Autonomous Process Assist). Benötigt wird eine Person, die die Materialien und Werkzeuge an einem zentralen Ort vor- und aufbereitet.
- Level 3: In der autonomen Fabrik sind der Materialfluss und die Prozesskette voll automatisiert: Materialien, Werkzeuge, Bauteile etc. werden angeliefert und autonom in der Fabrik zum Endprodukt verarbeitet. Menschen überwachen die Fabrik nur noch.
Torsten Vegelahn beschrieb anhand eines modernen Ekra-Druckers, wie die Transformation des Drucksystems für die Autonomielevel erfolgen kann und welche Eigenschaften dazu vom Drucker benötigt werden. Dabei ging er auch auf die Standardisierung und Sicherheitsaspekte ein. Für die Steuerung des Materialflusses benötigt die smarte Fabrik ausgehend vom Auftrags- und Stammdatenimport aus dem ERP/MES-System eine umfassende Lösung, so wie sie beispielsweise von der Software Pulse Pro von Asys geboten wird.
Digitale Transformation
Zum Start in den zweiten Vortragstag informierte Tobias Traurig, Zollner Elektronik AG, über die digitale Transformation in der Fertigungsplanung seines Unternehmens. Produzierende Unternehmen müssen sich den zunehmenden Herausforderungen stellen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Beispielsweise wird die Produktion fast täglich mit Stückzahl- und Produktänderungen konfrontiert. Digitalisierung ist deshalb auch hier angesagt und inzwischen ein Top-Projekt des Unternehmens. Denn alle Produkte und Prozesse sind betroffen. Herzstück ist dabei der Digitale Zwilling. Der gesamte Produktlebenszyklus wird digitalisiert. Tobias Traurig erläuterte das digitale Produktionskonzept der Zollner AG und insbesondere, wie dies bei der Produktionsplanung umgesetzt wird. Er merkte hierzu an, dass es ohne PLM-System keine Digitalisierung gibt.
Oberflächenreinigung mittels elektrostatischer Entladung
Nachdem Thomas Liebscher, Kist & Escherich GmbH, die Grundlagen der Oberflächenreinigung mittels elektrostatischer Entladung erläutert hatte, verdeutlichte er anhand zahlreicher Anwendungsbeispiele, wo diese heute eingesetzt wird und welche Anlagen bzw. Geräte sein Unternehmen hierzu anbietet. Die Vielfalt ist beeindruckend. Darunter sind auch Elektronikanwendungen wie die Reinigung von bestückten Leiterplatten. Die Herausforderung dabei ist, dass sich die Leiterplatten leicht elektrostatisch aufladen, was vermieden werden muss. Nach dem Nutzentrennen haften oft lose Partikel und Stäube auf der Oberfläche. Beides mögliche Quellen für Funktionsbeeinträchtigungen. Die Reinigungslösung von Kist & Escherich ist das Taifun-Clean Reinigungssystem, das über der Förderstrecke in der Produktionslinie installiert wird. Die darin integrierten Ionisationsstäbe befreien die Leiterplatte von elektrostatischen Ladungen und die mit dem Gerät erzeugten pulsieren den Druckluftwirbel lösen die Partikel von der Oberfläche. Zudem wird die kontaminierte Luft abgesaugt.
Neue Materialien basierend auf Kapillar-Suspensionen
Neue Materialien für flexible, gedruckte Elektronik, die auf dem Kapillar-Suspensionen basieren, stellte Prof. Dr. Norbert Willenbacher, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), vor, nachdem er das Phänomen der Kapillar-Suspensionen erläutert hatte. Kapillarkräfte einer zweiten, nicht mischbaren Flüssigkeit können die Eigenschaften von Suspensionen deutlich verändern, wie den Übergang von flüssigkeits- zu gelartigem Verhalten oder von schwachem zu starkem Gel. Der Effekt tritt auch dann ein, wenn die Flüssigkeit die Partikel schlechter benetzt als die Hauptflüssigkeit. Am Beispiel von CaCO3-Partikeln, die in unterschiedlichen Anteilen (0 bis 0,5 %) in einem organischen Lösungsmittel suspendiert sind, wurden diese Effekte verdeutlicht. Prof. Dr. Norbert Willenbacher erklärte anschließend, wie derartige neue Materialien hergestellt werden können und wo diese bereits eingesetzt werden. Sie werden beispielsweise als Vormaterialien für poröse Sintermaterialien (Keramik, Glas), in Silberpasten ohne nichtflüchtige Additive sowie für gedruckte und flexible Elektronik eingesetzt, wo sie mit ihren Kapillarkräften die Bildung leitfähiger Strukturen induzieren, was anhand etlicher Anwendungsbeispiele, darunter Sensoren und elektrische Verbindungen, verdeutlicht wurde.
Grenzwerte für die Koplanarität von Bauteilen und Substraten
Beim Löten und im Betrieb verbiegen sich durch Temperaturänderungen sowohl Bauteile als auch Substrate aufgrund unterschiedlicher thermischer Ausdehnungskoeffizienten. Mögliche Folgen sind Head in Pillow-Effekt bei BGA, Lotbrücken sowie Padabrisse und in den Lötverbindungen entstehen Spannungen, die vom unterschiedlichen Verformungsverhalten der Montagepartner geprägt sind. In dem von der AiF geförderten Projekt Warpage_ZUV wurde dies untersucht. Oliver Albrecht, Technische Universität Dresden, stellte die Ergebnisse in seinem Vortrag „Verbiegungen von Bauteilen und Substraten – Einflüsse auf Qualität und Zuverlässigkeit und Vorschläge für Grenzwerte“ vor. Allgemein gilt für die Realisierung zuverlässiger Lötverbindungen, dass die Koplanaritätsabweichungen der Komponenten bei der Schmelztemperatur des Lotes kleiner als die Nassschichtdicke der Lotpaste sein sollten. Dementsprechend lauten die Grenzwertempfehlungen für die Koplanaritätsabweichungen:
- BGA: nicht größer als die Nassschichtdicke unabhängig von Größe und Rastermaß
- LGA: 25 % der Nassschichtdicke
- QFP: 75 % der Nassschichtdicke
- QFN: 50 % der Nassschichtdicke
- DCB: keine Empfehlung, da Vielfalt an Variationen zu groß
- LP: keine Empfehlung, da vorliegende Daten Leiterplatten als unkritisch einstufen
Eine gute Benetzungsfähigkeit vergrößert die Grenzwerte. Eine konvexe Verbiegung ist günstiger. Die Koplanarität bei Raumtemperatur sollte nicht Null sein sowie bei großen Bauteilen und kritischen Anwendungen nachgemessen werden.
Wie ,No Limit' funktioniert
Nach dem Mittagessen referierte Joey Kelly im Keynote-Vortrag ,No Limits' über sein bewegtes Leben als Sportler, Musiker und Manager der Kelly Family. Anhand vieler Fotos schilderte er die Leistungen – darunter 8 Ironman-Teilnahmen in einem Jahr – die er mit dem Motto ,Du musst dir ein Ziel setzen und dann musst du einfach anfangen' angepackt und bewältigt hat: „Wenn es mal einen Rückschlag gibt, mach' einfach weiter. Schließlich ist das ganze Leben ein Marathon.“
Sicherheit und Risiken der Technik
Im Schlussvortrag ,No Risk no Fun – Sicherheit und Risiken der Technik' verdeutlichte Prof. Dr. Mathias Nowottnick, Universität Rostock, anhand von Beispielen aus dem Alltag die Problematik, dass kleine Ursachen oft große Wirkung haben. So haben sich gebrochene Lötverbindungen schon katastrophal ausgewirkt, wie z. B. 2014 beim Absturz eines A320 über der Java See. Prof. Dr. Mathias Nowottnick erläuterte die Begriffe Qualität: Fehler, Toleranz, Mangel, Zuverlässigkeit und Ausfallrate. Dabei betonte er, dass eine möglichst große Anzahl gleicher Produkte zu untersuchen ist, um Ausfallraten seriös zu ermitteln sowie dass sich Risiken nur berechnen lassen, wenn alle Einflussfaktoren bekannt sind. Am Beispiel der Kraftwerkstechnologien zeigte er auf, wie sich ökonomische Risiken durch Schadenshöhe und Wahrscheinlichkeit miteinander vergleichen lassen. Aber nicht alle Risiken lassen sich ökonomisch bewerten (z. B. in der Medizin) und statistische Aussagen lassen sich nur vergleichen, wenn sie die gleiche Bezugsbasis haben. Dass eine statistische Korrelation nichts über Ursache und Wirkung aussagt, verdeutlichte er anhand einer unsinnigen Korrelation zwischen Steuerbetrug und Lebenserwartung.
Das Vortrags- und Rahmenprogramm hat also viel geboten und ,Wir-gehen-in die-Tiefe' wurde wieder umgesetzt.