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Mittwoch, 29 März 2023 11:59

Das System war auf Kante genäht: Ein Interview mit Uwe Veres-Homm über die Situation der Lieferketten

von Redaktion
Geschätzte Lesezeit: 4 - 8 Minuten
Leoni musste zu Beginn des Ukrainekriegs die Fertigung von Kabelbäumen für den Automotive-Bereich an einen neuen Standort verlegen Leoni musste zu Beginn des Ukrainekriegs die Fertigung von Kabelbäumen für den Automotive-Bereich an einen neuen Standort verlegen Bild: Leoni

Die Arbeitsgruppe für Supply Chain Services des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS beschäftigt sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit der Analyse von Lieferketten und entwickelt Innovationswerkzeuge für die strategische digitale Transformation von Unternehmen. Wie blickt man dort auf aktuelle Krisenherde, und welche Lösungen werden von der Arbeitsgruppe angedacht? Wir haben Uwe Veres-Homm, stellvertretender Leiter der Abteilung Risiko- und Standortanalyse, befragt.

Herr Veres-Homm, stockende Lieferketten stellen seit geraumer Zeit die Leiterplattenindustrie sowie EMS-Dienstleister vor gravierende Probleme. War dies aus Ihrer Sicht bereits vor den bekannten Krisen (Covid, Ukrainekrieg) vorhersehbar – und wenn ja: seit wann?

Uwe Veres-HommUwe Veres-HommDass es früher oder später ruckeln würde, hat man schon kommen sehen – aber nicht, dass es so heftig, so global und mit so großen Verwerfungen kommen würde. Aus unserer Sicht hat das logistische System, nicht nur bezogen auf die Leiterplattenindustrie oder auf elektronische Komponenten, bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie sehr gut funktioniert: Eine Bestellung hat direkt eine Lieferung ausgelöst, es gab verlässliche Partner in der Kette, der Prozess war gut planbar und kostengünstig. Aber das System war bezüglich der Effizienz auf Kante genäht. Nun erleben wir, dass verschiedene Rädchen blockieren: wenn in China Häfen stillstehen schließen, der Suezkanal verstopft, AdBlue in Deutschland fehlt oder man nicht mehr durch die Ukraine fahren kann. Die Kriegssituation in der Ukraine ist für die europäischen Versorgungsketten noch schlimmer als die Pandemie. Diese müssen nun für mehrere Branchen umgebaut werden, weil mittel- bis langfristig nicht abzusehen ist, dass wieder Handel mit Russland getrieben oder der Warentransport durch Krisengebiete möglich sein wird.

Gab es denn nicht entsprechende Krisenprognosen?

Es gibt zwar die Disziplin des ‚Supply Chain Risk Managament' in den Unternehmen, aber das blieb an vielen Stellen abstrakt. Einige Unternehmen haben tatsächlich auf einzelne Lieferanten aus einzelnen Quellenländern gesetzt, wobei es ja Firmenpolitik ist, dies zu vermeiden, und sie erleiden langfristige Ausfälle, weil sie alles auf eine Karte gesetzt hatten. Nun wird branchenübergreifend umgebaut, um Lieferketten zu parallelisieren und zu verkürzen. Gerade die Automobiler hat es schwer getroffen, weil einzelne Prozessoren oder auch Kabelbäume gefehlt haben. Reagiert wurde zunächst mit dem Puffern der fehlenden Vorprodukte. Die Pufferlager kosten zwar Geld, bringen aber mehr Stabilität und damit Sicherheit ins Logistiksystem. Doch es wird dauern, diese Strukturen umzubauen.

Wie soll dieser Umbau erfolgen?

Man muss die Lieferketten anschauen: Welches Exposure besteht auf der Beschaffungsseite in bestimmten Quellenländern oder bei bestimmten Unternehmen? Was würde es bedeuten, wenn dieser eine Lieferant aus welchen Gründen auch immer ausfällt? Wie groß diese Gefahr ist, muss jedes Unternehmen selbst mit seinen Risikomanagern beantworten. Wenn man etwa – um ein geringes einstelliges Ausfallrisiko zu umgehen – einen anderen Lieferanten aufbauen muss mit entsprechend höheren Kosten, stellt sich die Frage, ob es das tatsächlich wert ist. Genau an dieser Stelle gibt es jetzt in vielen Fällen ein Umdenken. Vorher nahm man ein geringes Risiko in Kauf … nun hat sich das Mantra der unbedingten Kosteneffizienz in der Logistik in Richtung Sicherheit gedreht.

Setzte dieses Umdenken sofort ein, als diese Krisen erkennbar waren?

Ein großer Teil der deutschen Automobilindustrie hatte sich auf die zwei Produktionsstandorte für Kabelbäume von Leoni in der Ukraine verlassenEin großer Teil der deutschen Automobilindustrie hatte sich auf die zwei Produktionsstandorte für Kabelbäume von Leoni in der Ukraine verlassenNehmen wir als Beispiel die Kabelbäume von Leoni. Das Unternehmen hatte zwei Produktionsstandorte in der Ukraine. Interessanterweise hat sich ein großer Teil der deutschen Automobilindustrie auf diese zwei Quellen für ihre Komponenten verlassen. Mit dem russischen Einmarsch war die Produktion abgeschnitten. Es hat jedoch nur wenige Wochen gedauert, bis Leoni auf Produktionsstandorte in Rumänien umgesattelt hat. Dennoch hat der Lieferausfall an den deutschen Automobilstandorten zu Werkschließungen geführt. Bei Halbleitern wäre das noch fataler. Deshalb gibt es ja die Bemühungen, Produktionskapazitäten zu diversifizieren.

Durch Subventionen soll dies ja nun beschleunigt werden …

Einzelne Vorleistungsgüter – darunter Halbleiter – sind nun mal so essentiell für das Funktionieren einer Volkswirtschaft, dass wir eigene Kapazitäten brauchen. Wenn nicht in Deutschland, dann zumindest in der EU. Der Standort Deutschland hat derzeit durchaus eigene Themen, was Personal- und Energieverfügbarkeit angeht. Doch zumindest in der EU sollte man in den Bereichen Pharmazeutik und Elektronikkomponenten wieder eigene Produktionskapazitäten schaffen.

Logistik, Transport und Mobilität durchlaufen eine umfassende ‚digitale Transformation' – doch ein Flaschenhals bleibt die Ressource Mensch …

Dies ist derzeit mit die größte Herausforderung für die operative Logistik. Bei der Digitalisierung stehen wir im Branchenvergleich im unteren Mittelfeld, viele Unternehmen kämpfen damit, ihre eigenen Datenbestände zu sichern, zu verwalten und für KI-Lösungen verfügbar zu machen, um auf dieser Basis etwa Prognosen erstellen zu können. Aber ein Blick auf die umgekehrte Alterspyramide zeigt den Flaschenhals des wachsenden Personalmangels eindeutig auf. Nach wie vor sind es Menschen, die Güter anpacken, umschlagen, kommissionieren und transportieren. Wer wird das in Zukunft noch tun? Aus meiner Sicht lässt sich dies nur durch attraktivere Arbeitsbedingungen gewährleisten. Ich meine nicht allein höheres Entgelt, auch bessere Planbarkeit, Ausbildung und Lehre, und nicht zu vergessen: eine höhere Wertschätzung logistischer Berufe. Denken wir etwa an die Probleme von Lkw-Fahrern, Übernachtungsplätze zu finden. In der Pandemie mussten wir erkennen, dass funktionierende Logistik auch einen hohen gesellschaftlichen Wert besitzt.

Wie machen wir diese Berufe attraktiver?

Hier kommt die Digitalisierung ins Spiel. Sie bedeutet ja am Ende mehr Datentransparenz, um die Kapazitäts- und Ressourcenplanung zu verbessern. Man muss wegkommen von dem Prinzip, Überstunden zu fahren und kurzfristig für Kollegen einzuspringen, wenn mehr Transportvolumen anfällt. Auch der Mitarbeitende muss seine Ressourcenauslastung planen und steuern können, wenn etwa nach der ‚Rush Hour' weniger Arbeit anfällt. Hier ist Flexibilisierung gefragt – auch im Transportbereich. Durch zusätzliche Transparenz und optimierende Algorithmen können Mitarbeiter ihre Zeit besser planen. Vielleicht können sie sogar irgendwann ihre eigenen Disponenten werden. Das würde die Attraktivität der Jobs steigern. Diesen Weg müssen wir gehen: Wer bitte soll sonst in zehn Jahren, wenn die Babyboomer in Rente sind, diese Arbeit noch machen?

Haben sich vielleicht die Lebensrealitäten der Menschen so stark geändert, dass Flexibilität unumgänglich wird?

Wenn wir etwa auf innerstädtische Expresslieferdienste blicken, dann sehen wir, dass es dort überraschend wenig Probleme gibt, freie Stellen zu besetzen – obwohl die Arbeit nicht besser bezahlt wird als zum Beispiel im klassischen Paketbereich. Doch man bietet den Arbeitnehmern eine hohe Flexibilität: rekrutiert wird unter anderem per ‚Whatsapp', es reicht die kurze Frage, wer gerade Lust auf ein paar Stunden Arbeit als ‚Ryder' hat und dann wieder nicht … Aber die Frage ist: Können solch flexible Modelle in der industriellen Logistik funktionieren?

Wie lautet die Antwort?

Wenn man ehrlich ist: Nein. Hier ist eine präzise Planung unumgänglich. Absehbar ist jedoch, dass Maschinen einen Teil der Arbeit übernehmen. Im Transport sind wir davon noch Jahre entfernt – Stichwort autonomes Fahren. Bei der Lagerlogistik ist man schon weiter, vor allem bei standardisierten Verpackungsgrößen. Die Lohndiskussion ist dabei nicht das Ausschlaggebende, sondern wie flexibel ein Arbeitnehmer seine Arbeitszeit gestalten kann. Für die Logistikdienstleister ist das nicht leicht. Die waren es gewohnt, dass alles auf maximale Effizienz getrimmt ist. Doch nun wird man Einbußen bei der Kosteneffizienz machen müssen, die Kosten pro Transporteinheit werden steigen. Die Logistik wird teurer werden.

Kann die Digitalisierung helfen, solche flexiblen Arbeitszeitmodelle zu gestalten?

Dazu laufen bei uns ja Projekte. Wir versuchen auf Grundlage der Vergangenheitsdaten und aktueller Einflussfaktoren wie Durchlaufzeiten im Lager zu prognostizieren, wie viel Personal man auf der Fläche braucht – tagesaktuell. Vielleicht kann man bald sagen, ob an einem Tag zwei Leute zuhause bleiben oder zwei Stunden später kommen können. Manche wollen flexibel sein, gerade wenn zwei bis drei Leute angefragt werden, wer Zeit hat und für drei Stunden kommen mag. Jedenfalls kann mit Prognosemethoden die Kapazitätsverteilung und Lastensteuerung bei den Logistikprozessen verbessert werden.

Wie bewerten Sie die bereits beschlossenen bwz. geplanten Gesetze über unternehmerische Sorgfaltspflichten in Lieferketten?

Die Notwendigkeit wird von den Unternehmen einerseits anerkannt und verstanden. Doch ich vernehme aus der Praxis auch ein lautes Ächzen und Stöhnen. Rein praktisch gesehen kann man vielleicht noch den T1-Supplier – also den eigenen Zulieferer in der Kette – prüfen und bewerten. Aber die gesamte Lieferkette in den Blick zu bekommen ist extrem schwierig. Die Informationslage, gerade im asiatischen Raum, lässt hierbei an vielen Stellen noch zu wünschen übrig.

Es stellt sich auch die Frage, wie die Einhaltung der Regeln überwacht werden kann …

Dazu gibt es ein paar pfiffige Ansätze – Start-ups, die nachprüfen, wo ein Zulieferer sitzt, wie sich vor Ort die Umweltbedingungen gestalten, oder ob ein Verdacht auf Kinderarbeit besteht. Da werden auch Satellitenbilder ausgewertet und lokale Nachrichten über Gewerbegebiete übersetzt. Doch auf jeden Fall bringt das Gesetz einen nicht zu unterschätzenden, regulativen Mehraufwand mit sich.

Wie sollten Unternehmen auf diese Gesetze reagieren?

Der Zeitpunkt, an dem Unternehmen auskunftspflichtig sein müssen ist ja schon absehbar. Deshalb sollte man sich frühzeitig intern damit beschäftigen. Entsprechende Leitfäden existieren bereits. Ansonsten winkt den darauf spezialisierten Beratern ein großes Geschäft …

www.iis.fraunhofer.de
www.leoni-automotive-cables.com

Weitere Informationen

  • Ausgabe: 3
  • Jahr: 2023
  • Autoren: Redaktion

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