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Dienstag, 05 Dezember 2023 10:59

Große Herausforderungen für Russlands Leiterplattenindustrie – Teil 2/2: Umstrukturierungen

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Geschätzte Lesezeit: 5 - 9 Minuten
Lachta Zentr in St. Petersburg im Oktober 2022 Lachta Zentr in St. Petersburg im Oktober 2022 Bild: Kora27/CC BY-SA 4.0 Deed

Sowohl wegen als auch trotz der Sanktionen westlicher Länder, die im Frühjahr 2022 nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine noch wesentlich verschärft wurden, baut Russlands Leiterplattenindustrie neue Fertigungskapazitäten auf. Dabei liebäugelt man auch mit der Fertigung in Niedriglohnländern. Zweiter Teil einer Analyse.

Manche russische Elektronikhersteller geben in der Fachpresse des Landes ohne Umschweife zu, dass sie ihre Leiterplatten u. a. aus Ökonomiegründen aus dem asiatischen Raum beziehen und nicht aus Russland selbst. Dabei handelt es sich meist

  • um höherwertige Boards in mittleren Stückzahlen wie HDI- oder Starrflex-Multilayer (Südkorea, Taiwan, China) oder
  • um einfache Boards als preiswerte Massenware (China)

Sehr hochwertige komplexe HDI-Boards mit sehr schmalen Leiterbahnen kamen in geringen Mengen aus Deutschland. Die Herstellerübersicht für Leiterplatten 2022 in [7] zeigt, dass unter den dort aufgeführten 27 Firmen weniger als eine Handvoll wirklich technologisch in der Lage ist, Boards mit einem Line/Space-Wert ≤ 50 µm (Klasse 7 nach GOST-Standard) herzustellen. Die Rentabilität der Produktion als auch die stabile Reproduzierbarkeit solcher Leiterplatten ist noch eine andere Frage. Die Mehrzahl der Firmen gibt Klasse 5 (L/S ≤ 100 µm) an. Das ist aber nicht die Leistungsfähigkeit, mit der man in den kommenden Jahren die steigenden Anforderungen der russischen Elektronikindustrie erfolgreich bedienen kann, insbesondere dann, wenn die Abhängigkeit bei High-Tech-Boards vom ‚westlichen' Ausland (Deutschland, Südkorea, Taiwan), gegebenenfalls auch China verringert werden soll. Dessen ist man sich in der Elektronikindustrie Russlands bewusst.

Derzeit gibt es Investoren, die bereit sind, in den Ausbau bestehender Anlagen und in neue Standorte für die Board-Produktion zu investieren. Solche Investitionsprojekte werden insbesondere von den bereits vorhandenen Leiterplattenproduzenten Rezonit LLC, Technotech LLC, Kernel Fab Dubna LLC und Consult-Technology LLC (GS Group) umgesetzt. Dabei kommen unterschiedliche Firmenstrategien zum Einsatz.

Das 1997 gegründete Unternehmen Rezonit beispielsweise setzt auf die langjährigen ingenieurtechnischen Erfahrungen einer eigenen Projektgruppe und konzentriert sich im eigenen Programm voll auf den Kauf von Ausrüstungen, Chemikalien und Produktionssteuerungssoftware aus russischer Produktion, um eine sanktionsresistente Basis von Maschinen und Technologien zu schaffen [8]. Hinweise für Fortschritte im Angebot zur Eigenversorgung Russlands sind unübersehbar, können jedoch aus Platzgründen hier nicht detailliert dargelegt werden. Das jüngste Werk von Rezonit in der Sonderwirtschaftszone Technopolis bei Moskau wird noch 2023 in Betrieb genommen und die Board-Produktion als auch EMS-Leistungsfähigkeit gravierend erhöhen (Abb. 3). Es kommen Automatisierungs- und IT-Lösungen zur Anwendung, die in den bestehenden Produktionsstandorten von Rezonit erfolgreich implementiert und erprobt wurden. Auch die neue Montagehalle für den EMS-Bereich wird mit russischer Ausrüstung und Software ausgestattet. Ein Team junger Entwickler aus Taganrog hat die Basis dafür geschaffen.

Abb. 3: Neues Produktionsgebäude von Rezonit in Technopolis bei MoskauAbb. 3: Neues Produktionsgebäude von Rezonit in Technopolis bei Moskau

Die Verwendung von eigenen Ausrüstungen und Materialien für die Herstellung und Bestückung von Leiterplatten kann nach Meinung des Unternehmensmanagements die Risiken verringern, die mit Änderungen der außenwirtschaftlichen Situation und Wechselkursschwankungen verbunden sind sowie Transportkosten und Steuern im Zusammenhang mit Importen senken, was sich positiv auf die Senkung der Endkosten der Produktion auswirken kann. Im Allgemeinen wird die Importsubstitution als ein Anreiz für die Entwicklung der lokalen Wirtschaft und die Schaffung neuer qualifizierter Arbeitsplätze gesehen. Wenn man sich aber die Übersicht der Anbieter von Ausrüstungen für die Elektronikfertigung 2023 Russlands ansieht, fällt auf, dass die Anzahl der Anbieter für Ausrüstungen zur Board-Produktion extrem klein ist [9]. Wo also stecken die Anbieter?

Technotech, vorn ebenfalls als Großinvestor genannt, vertraut offensichtlich im Gegensatz zu Rezonit traditionell völlig auf Importanlagen und hat 2022 mit dem Ausbau und der Modernisierung der Produktion auf Basis von 500 Ausrüstungen führender europäischer Hersteller begonnen. Offensichtlich wurden das Modernisierungskonzept und die Kaufverträge noch vor Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine erstellt [10]. Durch die Modernisierung werden die Produktionsvolumina um 70 % erhöht, die Serienfertigung von Leiterplatten bis einschließlich Genauigkeitsklasse 6 (L/S minimal 0,075 mm) etabliert und zudem ein hoher Automatisierungsgrad erreicht. Präzisionsbohrmaschinen von Schmoll wie ‚Schmoll LaserFlex' sollen Bohrungen bis 50 µm Durchmesser ermöglichen und damit die Voraussetzungen für noch komplexere HDI-Multilayer der GOST-Klasse 7 (L/S = 50 µm) schaffen. Diese massive Kapazitätsaufstockung wird sich in der russischen PCB-Fertigung ab 2024 deutlich auswirken (Abb. 4).

Abb. 4: Multilayerfertigung bei TechnotechAbb. 4: Multilayerfertigung bei Technotech

Ebenfalls am Standort von Technotech wird durch das Unternehmen Vostok ein neues Halbleiterwerk gebaut. Die Vostok Joint Stock Company ist in Russland ein führender Entwickler und Hersteller von integrierten Schaltkreisen, Operationsverstärkern, Photodetektoren und Sensoren.

Auch viele große Player im russischen Elektronikmarkt denken darüber nach, eigene Fabriken für die PCB-Produktion in Russland zu bauen. Der Grund: Die Endabnehmer von Elektronik in Russland fordern von den Geräteherstellern Liefersicherheit, die jedoch wegen der Sanktionen und der Erfahrungen mit den Corona-bedingten unterbrochenen Lieferketten aus China nicht ausreichend gegeben werden kann. In [11] wurde bereits 2021 die Vermutung geäußert, dass wenn alle Pläne umgesetzt würden, sich das Produktionsvolumen von Leiterplatten in Russland in den nächsten fünf Jahren um ein Vielfaches steigern könnte. Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, denn die technischen Ressourcen für eine hochwertige Leiterplattenproduktion müssen nicht mehr bei Umgehung der Sanktionen teuer als Parallelimporte aus den westlichen Industrieländern realisiert werden, sondern können faktisch aus einem sehr komplexen, durchaus hochqualitativen chinesischen Grundsortiment ausgesucht werden [12]. Es ist abzusehen, dass durch die neuen scharfen Sanktionsbedingungen und wachsende Möglichkeiten zur Eigenversorgung die Vorliebe vieler russischer Leiterplattenproduzenten, alles für die Board-Fertigung notwendige vor allem im Westen zu kaufen, zwangsläufig zumindest extrem eingeschränkt werden wird. Hilfe bei dem notwendigen strategischen Umdenken findet die Leiterplattenindustrie in solchen neuen russischen Brain-Firmen wie YADRO [13].

Mehr eigene Laminatproduktion

Bild: AdobeStockBild: AdobeStockSeit der weiteren Verschärfung der Saktionen gegen Russland im Jahr 2022 ist die Versorgung der Elektronikindustrie mit hochwertigen Laminaten unterschiedlicher Art zu einem Problem geworden. Die seit etwa 1995 unternommenen Versuche zum Aufbau einer eigenen leistungsfähigen Produktion in Russland waren nicht erfolgreich. Die meisten Board-Hersteller des Landes bevorzugten Laminatimporte aus den westlichen Ländern oder aus China. Um diese Abhängigkeiten zu reduzieren, soll die Laminatfertigung in Russland forciert werden. Beispielsweise hat der Leiterplattenhersteller Technotech (Platz 2 im russischen PCB-Ranking) in Joschkar-Ola an der Wolga im Rahmen der staatlich forcierten Importablösung eine eigene Laminatproduktion aufgebaut, deren möglicher Produktionsumfang aber nicht bekannt ist. Die Glasfaserlaminate vom Typ ML FR-4 und ML FR-4 HiTg entsprechen nach Angaben des Herstellers den Anforderungen der Norm IPC-4101D/26 und sollen der Laminatqualität der weltweit führenden Unternehmen qualitativ nicht nachstehen. Technotech fertigt bis zu 2 Mio. dm2 Leiterplatten pro Jahr mit einer teilautomatisierten Fertigung.

Schon im März 2022 kündigte die russische Space Systems Holding Roskosmos die Gründung eines Kompetenzzentrums für die Herstellung von Leiterplatten, darunter hochzuverlässige Multilayer, aus heimischen Rohstoffen an. Am Standort Moskau ist ein geschlossener Produktions- und Technikkomplex mit einer kompletten Spezialausrüstung aufgebaut worden, der den Einfluss des menschlichen Faktors minimiert [14].

Auch das Unternehmen Roselektronik teilte im September 2022 mit, dass ein hochwertiges neues Laminat für UHF-Leiterplatten entwickelt wurde. Als Hauptbestandteile für die Herstellung der Dielektrika werden Benzocyclobuten-Derivate verwendet [15].

Personal- und Finanzprobleme

Nach dem Beitritt Russlands zur WTO ist eine Situation entstanden, in der die Einfuhr fertiger Leiterplatten einem Nullzollsatz unterliegt, während für die Einfuhr aller Materialien, Chemikalien und Ausrüstungen ein Zollsatz von 5 % oder mehr fällig ist. Dies verschafft unter anderem ausländischen Herstellern Wettbewerbsvorteile auf dem russischen Markt, was durch die hohen Importe aus China bestätigt wird. Deshalb werden Lösungen dafür gesucht:

  1. Aufbau russischer Leiterplattenfertigungen in Niedriglohnländern wie Indien
  2. Staatliche Unterstützung durch Steuervorteile für die Leiterplattenhersteller

Abb. 5: ARPE auf Geschäftsmission in Indien vom 27.-31.3.2023 [16]Abb. 5: ARPE auf Geschäftsmission in Indien vom 27.-31.3.2023 [16]Der russische Interessenverband der Elektronikhersteller ARPE ist seit etwa vier Jahren dabei, die indische Elektronikindustrie vor Ort durch gemeinsame Konferenzen und Firmenbesichtigungen zu sondieren und Möglichkeiten einer engeren Kooperation mit indischen Firmen zu analysieren (Abb. 5) [16]. Ein Grund dafür: Die meisten russischen Unternehmen verfügen über in Europa hergestellte technologische Linien, die für die Arbeit mit bestimmten Arten von importierten Chemikalien ausgelegt sind. Jetzt sind die Russen wegen der Sanktionen gezwungen, Ersatzmaterialien aus asiatischen Ländern zu finden. Wenn sich diese für ihre Zwecke nicht adaptieren lassen, benötigen sie möglicherweise auch chinesische Ausrüstungen. Letztere sind zum Teil Eigenentwicklungen, in gewissem Maße aber auch Kopien oder Adaptionen westlicher Maschinen. Der Austausch des in Russland genutzten westlichen Equipments erfordert erhebliche Investitionen. Solche Probleme wirken sich auf die Kosten der Produkte aus, was die russischen Hersteller weniger wettbewerbsfähig macht. Der russische Leiterplattenmarkt braucht folglich Unterstützungsmaßnahmen seitens der Regierung. Gegenwärtig bereitet diese für die betroffenen Firmen Steuererleichterungen vor, die noch 2023 in Kraft treten sollen. Diese Erleichterungen sind Bestandteil des Programms zur Lokalisierung der Produktion in Russland. Die Hersteller von Leiterplatten stehen unter starkem Druck von Kunden, denen der Staat Vorteile gewährt, die von der Produktion in Russland abhängen.

Aber es gibt auch noch das Personalproblem in Russland. Um die gestellten Aufgaben umzusetzen, sind nicht nur Finanzspritzen und der Bau von Fabriken erforderlich, sondern auch Bemühungen, geeignetes qualifiziertes Personal im Land zu gewinnen und zu halten [17]. Es ist folgendes notwendig:

  • Programme für die Teilnahme von Universitäten an realen F&E-Projekten (wie in den USA) zu unterstützen und zu stimulieren
  • auf die Praxis ausgerichtete Ingenieurschulen (ähnlich den Fachhochschulen in Deutschland) und offene Laboratorien zu schaffen, die das erforderliche Personal dann bereitstellen.

Nachtrag

In Plus 3/2016 berichtete der Autor über den Neubau einer modernen Leiterplattenfertigung der russischen Firma ‚OOO Svjaz Engineering' in Dubna. Diese mit neuesten westlichen Ausrüstungen unter Umweltgesichtspunkten geplante und realisierte Produktionsstätte wurde in der russischen Fachpresse als Beginn einer neuen Ära der russischen PCB-Industrie gewürdigt. ‚Svjaz Engineering' errichtete sie für die Beschleunigung der Importablösung und für die Verringerung der Abhängigkeit von chinesischen Board-Lieferanten. Wie der Autor durch Nachforschungen dieses Jahr feststellte, ist die Produktion nie richtig in Gang gekommen, weil die russischen Gerätehersteller es vorzogen, die Leiterplatten weiterhin lieber billiger in China zu kaufen. Über mehrere Jahre standen die Maschinen abgedeckt in den Fertigungsräumen herum – eine Fehlinvestition, die ‚Svjaz Engineering' die Existenz kostete. Diese Erfahrung und weitere nähren Zweifel, ob es der russischen Leiterplattenindustrie gelingt, ihre neuen Ziele erfolgreich zu verwirklichen.

Referenzen

[7] https://russianelectronics.ru/pcb-2022/ (Abruf: 16.10.2023).
[8] www.rezonit.ru/news (Abruf: 16.10.2023).
[9] https://russianelectronics.ru/tehoborudovanie/ (Abruf: 16.10.2023).
[10] https://tehnoteh.ru/uslugi/izgotovlenie-steklotekstolita/ (Abruf: 16.10.2023).
[11] https://microwave-e.ru/market/pcb-2021/ (Abruf: 16.10.2023).
[12] https://engineer.yadro.com/interview/multilayer-printed-circuit-boards/ (Abruf: 16.10.2023).
[13] https://engineer.yadro.com/about/ (Abruf: 16.10.2023).
[14] https://russianelectronics.ru/2022-03-17-rogozin/ (Abruf: 16.10.2023).
[15] https://russianelectronics.ru/roselektronika-razrabotal-material-novogo-pokoleniya-dlya-proizvodstva-pechatnyh-plat_09_08_22/ (Abruf: 16.10.2023).
[16] http://arpe.ru/news/ARPE_v_Indii/ (Abruf: 16.10.2023).
[17] https://rg.ru/2022/07/04/stroit-i-zameshchat.html
(Abruf: 16.10.2023).

Weitere Informationen

  • Ausgabe: 11
  • Jahr: 2023
  • Autoren: Dr. Hartmut Poschmann, TechTrends

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