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Freitag, 17 Februar 2023 10:59

Geplatzter Aquadom: war Spannungsrisskorrosion die Ursache?

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Sea Life Aqua Dom in Berlin  mit Fahrstuhl in der Mitte des  Tubusses vor dem Unglück im  vergangenen Dezember. Es war ehemals  das größte zylindrische Aquarium der Welt Sea Life Aqua Dom in Berlin mit Fahrstuhl in der Mitte des Tubusses vor dem Unglück im vergangenen Dezember. Es war ehemals das größte zylindrische Aquarium der Welt Foto: Gemeinfrei, commons.wikimedia.org

Wie der gewaltige Aquadom in Berlin Ende vergangenen Jahres urplötzlich platzen konnte, bleibt weiter rätselhaft. Der Autor eines Korrosionsschutz-Buchs aus dem Leuze Verlag hat sich mit einer spannenden Theorie an die Galvanotechnik-Redaktion gewendet. Er macht einen Effekt für die Havarie verantwortlich, der auch bei galvanisierten Oberflächen auftritt.

Kurz vor Weihnachten 2022 machte die Nachricht die Runde, das Berliner Großaquarium „Aquadom“ sei geplatzt. Bilder der Zerstörung aus der Lobby des Hotels Radisson Collection waren auf den TV-Bildschirmen und den Titelseiten der Tageszeitungen zu sehen, nachdem es von 1 Million Liter Wasser geflutet worden war. Der größte Teil der 1500 Fische, die in dem „größten zylindrischen Aquarium der Welt“ mit integriertem echtem Korallenriff gelebt hatten, erstickte in den Trümmern des geborstenen Meereshabitats. Das Aquariumskonstruktion hatte eine Höhe von 25 Metern. Ein Aufzug durch die freistehende Konstruktion beförderte Besucher von der Lobby nach oben in die Unterwasserwelt Sea Life, die sich im gleichen Gebäudekomplex wie das Hotel befindet.

Abb. 1: Spannungs-Dehnungs-Diagramme von Aluminium im inaktiven Medium und im aktiven Medium (Alkohol)Abb. 1: Spannungs-Dehnungs-Diagramme von Aluminium im inaktiven Medium und im aktiven Medium (Alkohol)Seit dem Unglück am 16. Dezember, bei dem es glücklicherweise keine Toten und lediglich zwei Verletzte gab, wird über die Ursache spekuliert. Die Untersuchungen sind in vollem Gange. Das Aquarium bot einer bunten Fischwelt in 26 Grad warmem Salzwasser seit 2003 ein Zuhause, täglich bewundert von Hunderten Besuchern. Die 14 Meter hohe Wassersäule mit 1 Million Liter Wasser war von zentimeterdickem Acrylglas eingefasst. Es lastete also ein gewaltiger Druck auf dem Glas. In ersten Stellungnahmen war von Materialermüdung die Rede. Doch Prof. Karl-Helmut Tostmann, Galvanotechnik-Leser und Autor des im Leuze Verlag erschienen Lehrbuchs „Korrosionsschutz in Theorie und Praxis“, ist von einer anderen Ursache überzeugt.

Prof. Tostmann zufolge ist der Rehbinder-Effekt für die Havarie des Aquariums verantwortlich. Diesem Effekt zufolge können „flüssige Medien, die grenzflächenaktive Substanzen enthalten, im Oberflächenbereich die Festigkeit eines Werkstoffs beeinflussen“ [1]. Diese erleichterte Verformbarkeit durch grenzflächenaktive Stoffe wird Rehbinder-Effekt genannt. Über das werkstofftechnische Phänomen, das insbesondere zur Verformbarkeit und „Oberflächenzerrüttung“ von Acrylglas, aber auch von Metallen (Abb. 1) führt, hatte Prof. Tostmann für das 2017 erschienene Korrosionsschutz-Buch auf Quellen in alten DDR-Nachschlagewerken zurückgegriffen. Im Buch ist eine interessante Grafik über die mechanische Beanspruchung in aktiven und inaktiven Medien bei kristallinen Werkstoffen wie Acrylglas zu sehen (Abb. 2).

Während der Rehbinder-Effekt bei metallischen Werkstoffen nur zu einer Festigkeitsveränderung führt, die jedoch zu tieferen interkristallinen Rissen führen kann, sind Werkstoffe wie Glas, Keramikmaterialien und Kunststoffe deutlich stärker betroffen. Prof. Tostmann schreibt im seinem Buch, dass bei ihnen Schäden durch Spannungsrisskorrosion bekannt geworden sind. „Wenn ich früher zum Glasbläser ins Labor gegangen bin und dort ein Rohr geschnitten wurde, hat er das angeritzt, dann einen Finger mit Speichel benetzt und ihn auf das Glasrohr aufgetragen. Dann brach das Rohr ungewöhnlich leicht“, beschrieb Prof. Tostmann die praktischen Auswirkungen des Rehbinder-Effekts im Gespräch mit der Galvanotechnik.

Abb. 2: Einfluss grenzflächenaktiver Medien auf die mechanische Zerrüttung von kristallinen WerkstoffenAbb. 2: Einfluss grenzflächenaktiver Medien auf die mechanische Zerrüttung von kristallinen WerkstoffenDie Oberflächenzerrüttung geht hier von den im Speichel enthaltenen Tensiden aus, die auch Bestandteil normaler Haushaltsreinigungsmittel wie Pril sind. Schon ein kleiner Riss kann zum Auslöser werden. Und im Beispiel handelte es sich „nur“ um Glas. Acrylglas ist laut Tostmann noch wesentlich anfälliger für den Rehbinder-Effekt (Abb. 3). Unerheblich ist der Rehbinder-Effekt allerdings, wenn keine Spannung vorliegt – was im Aquadom jedoch nicht der Fall war.

Der Rehbinder-Effekt ist auch in der Galvanotechnik bekannt, so Prof. Tostmann: „Wir kennen das in der Galvanik bei Quecksilber auf Messing oder bei der Messingversprödung“. Weil beim Aquadom die Spannungen auf dem ganzen Behälter liegen und es überall hydrostatischen Druck gibt, reicht irgendwo ein kleiner Riss, über den später mit dem Waschlappen gefahren wird, um auf lange Sicht die Havarie auszulösen, ist Prof. Tostmann sicher.

Fälle von Acrylbruch durch Waschmittel gab es auch schon, erinnert er sich. Die betrafen Fußbodenheizungen, bei denen Acrylglas eingesetzt wurde. Nach der Verlegung wurden diese Böden mit normalen Haushaltsmitteln gereinigt, was zu zahlreichen Schadensfällen geführt haben soll.

Die Acrylscheibe im Auto ist dagegen nicht gefährdet, gibt er Entwarnung. Sie stehe nicht unter Spannung, weshalb der Kontakt mit Reinigungsmitteln, die Tenside enthalten, ungefährlich ist. Es bleibt also spannend bei der Ursachenermittlung zum Berliner Aquadom. Prof. Tostmann ist sich seiner Sache sehr sicher – ob Spannungsrisskorrosion eines Tages aber tatsächlich als offizielle Ursache eingestanden wird, steht dagegen in den Sternen.

Abb. 3: Spannungsrisskorrosion von Acrylglas, ausgelöst durch  einen oberflächenaktiven Kontaktklebstoff (Bilder und Grafiken: K. H. Tostmann:  Korrosionsschutz in Theorie und Praxis)Abb. 3: Spannungsrisskorrosion von Acrylglas, ausgelöst durch einen oberflächenaktiven Kontaktklebstoff (Bilder und Grafiken: K. H. Tostmann: Korrosionsschutz in Theorie und Praxis)

Für umfassende Informationen über Korrosionsschutz ist das Fachbuch von Prof. Karl-Helmut Tostmann empfehlenswert.

ZUR INFO

Prof. Karl-Helmut Tostmann

ist inzwischen emeritiert und lehrte zuletzt Oberflächentechnik an der Fachhochschule Aalen. Er arbeitete u. a. bei der DECHEMA Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie, aber auch bei der Steinbeis-Stiftung in Stuttgart, wo er als Industrieberater für Schäden und Abwasserfragen tätig war. Dabei ging es häufig um Schadensanalysen, überwiegend bei Rohren.

Literatur

[1] K. H. Tostmann: Korrosionsschutz in Theorie und Praxis, Leuze Verlag, 1. Auflage, Bad Saulgau (2017), S. 132-134

Weitere Informationen

  • Ausgabe: 2
  • Jahr: 2023
  • Autoren: Robert Piterek

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