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Wednesday, 30 November 2022 10:59

Mit gezinkten Karten spielen [1]

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Pokerspiel mit fluoriszierenden Karten – aber sind sie auch gezinkt? Pokerspiel mit fluoriszierenden Karten – aber sind sie auch gezinkt? Bild: MPC – MakingPlayerCards

Wer mit gezinkten Karten spielt, übt entweder einen Kartentrick aus – oder er betrügt. Ein Kartenzauberer verblüfft damit die Zuschauer. Aber kaum jemand glaubt heutzutage noch an echte Wunder. Selbst Kinder rätseln meist nur, ‚wie der Zauberer das gemacht hat'. Am Spieltisch wiederum hat das Zinken eine lange Tradition und wird stets weiter entwickelt, so dass heutzutage bereits Karten mit radioaktiven Zinken verwendet werden.

Mammutschädel und Stoßzahn im ‚Museum of the Rockies‘ in Bozeman (Montana)Mammutschädel und Stoßzahn im ‚Museum of the Rockies‘ in Bozeman (Montana)Bei der elektronischen Fertigung werden zwar keine Spielkarten eingesetzt, aber Taschenspielertricks scheinen nicht unbekannt. Nehmen wir uns mal die Flussmittel vor, so beharren die Hersteller meist auf Betriebsgeheimnissen [2], da sie dem lieben Kunden nicht offenbaren wollen, was sich da alles in der Mixtur finden lässt. Das ist zwar altmodisch, wird aber immer noch dem weniger bemittelten Abnehmer so dargestellt. Altmodisch deshalb, weil jede einigermaßen ausgebildete Laborassistentin oder Chemikerin mit den modernen Analyseverfahren, etwa mit der Gaschromatographie, und den dazugehörigen Programmen, schnell herausfinden kann, was Sache ist. Man lese nur, wie Archäologen aus dem alten Zahn eines Mammuts [3] sein ganzes Leben rekonstruieren können.

Zwei signifikante Einschnitte haben die Chemie in den Flussmitteln stark beeinflusst. Das Montrealer Protokoll [4] trat am 1. Januar 1989 in Kraft und entzog den Anwendern Halogenkohlenwasserstoffe (HKW, Markenbezeichnungen Freone, Frigene und Solkane) sowie eine Reihe anderer Chemikalien, die beim Waschen von gefertigten Baugruppen Verwendung fanden. Das war signifikant, da die meisten Flussmittel mit den verschiedenen Kolophonien rezeptiert wurden und Kolophonium nicht wasserlöslich ist.

Nicht lange danach machte sich die EU stark und erließ die RoHS (Richtlinie zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten) vom 1. Juli 2006, die durch das weitgehende Verbot von Blei in Loten die Temperaturen beim Löten stark erhöhte – bei dem stark angestiegenen Energiebedarf nicht gerade ideal.

Zwar waren die HKWs keine ‚idealen' Lösemittel für die Flussmittelreste, aber sie schafften es eben auch die Harze anzugreifen, die mit Vorliebe in den Mixturen verwendet wurden. Ohne sie hatte man keine wirklich guten Alternativen und so entstanden dann die (weitgehend) harzfreien oder ‚no-clean' Flussmittel.

Taschenspielertricks bei Flussmittel-Säuren

Ameisen benutzen ihre Säure nicht zum Reflow-Löten, sondern zur Abwehr selbst übermächtiger GegnerAmeisen benutzen ihre Säure nicht zum Reflow-Löten, sondern zur Abwehr selbst übermächtiger GegnerDie RoHS hatte einen tieferen Eingriff dadurch verursacht, dass beim bleifreien Löten deutlich höhere Temperaturen gefragt sind – von 184 °C auf etwa 230 °C. Hierzu sollte man wohl nochmals erklären, dass die Hauptaufgabe der Säuren in Flussmitteln die Beseitigung existierender und durch Sauerstoffeinwirkung während des Schmelzvorgangs erzeugter Oxide ist. Somit versagten die traditionellen Säuren, denn sie reagierten unterhalb des neuen Schmelzpunktes und hier setzten dann die ersten Taschenspielertricks an.

Dazu müsste man vielleicht auch wissen, dassdie Aktivität eines Aktivators meist mit steigender Temperatur zunimmt, um dann oberhalb eines gewissen Werts zu versagen. Das hat mit der thermischen Zersetzung oder übermäßiger Verflüchtigung zu tun.

Wahrscheinlich zum Bedauern der Löter und der einschlägigen Chemiker ist die Situation auf der Leiterplatte weit komplizierter. Nicht nur dass das Flussmittel nicht den einzigen Beitrag leistet – durch mögliche Reaktionen des ganzen chemischen Mischmaschs und die Temperaturunterschiede auf der Baugruppe wird die Geschichte sehr viel unübersichtlicher.

Meistens wurden in den milderen Flussmitteln Aktivatoren verwendet wie etwa Ölsäure oderFettsäure, beide aus der Klasse der Fettsäuren. Auch Carbonsäuren und Dicarbonsäuren sowieAminosäuren fanden sich in den Mixturen. Bei noch milderen Flussmitteln wurden auch Halogenide oder Organohalogenide beigegeben.

Nachdem sie in ihren dicken Chemiewälzern nachgeschlagen haben, bleiben eigentlich nur wenige Säuren für die Flussmittel übrig, denn viele sind zu gefährlich (tragische Unfälle hat es schon gegeben und selbst bei den derzeitigen sind Reizungen der Atemwege oder Hautirritationen möglich) oder haben Eigenschaften, die sie ungeeignet für die heutigen Lötprozesse machen.

Wählen wir mehr oder weniger willkürlich einige häufig verwendete Säuren aus und betrachten deren Eigenschaften. Die Fragen, die man sich da stellt sind eben ihre Wirksamkeit, der Temperaturbereich in dem sie angwendet werden sollten, mögliche chemische Reaktionen oder Zerfallsprodukte sowie das Verdampfen, womit sie wohl von der Baugruppe verschwänden.

Harzsäure

Zwar haben die natürlichen Harze ihre eigenen Probleme, wie etwa Ernteunterschiede je nach Jahr, aber sie wurden in der bleihaltigen Vergangenheit gerne eingesetzt, weil einerseits die Temperaturen gerade richtig passten und andererseits die Rückstände weitgehend inert waren – ionisierbare Salze etc. waren hübsch eingebettet in wasserunlöslichem Harz.

Aber was sie so geeignet machte, wurde durch die bleifreien Lote ad absurdum geführt, denn sie reagierten zu früh. Obgleich das gepriesene ‚Plateau' bei dem Reflowprofil plötzlich nicht mehr erwünscht war, hatten sich die Harzsäuren weitgehend überlebt.

Ameisensäure

Vor einigen Jahren wurde reine Ameisensäure von einigen Adepten der Branche als Panaceum beim Löten gepriesen. Inzwischen hat sich diese Anpreisung jedoch beinahe von selbst erledigt, denn ein Blick auf den Schmelzpunkt sowie die Zersetzungtemperatur alleine reichen bereits aus, um diese Säure für die bleifreie Technik weitgehend uninteressant zu machen.

Dazu kommen dann nochGesundheitsgefahren, denn der direkte Kontakt mit Ameisensäure oder konzentrierten Dämpfen reizt die Atemwege und Augen und kann zu schweren Verätzungen führen, was für Löterinnen nicht sehr erfreulich wäre.

 Tab. 1: Harzsäuren zählen zu den Carbonsäuren und bilden die Hauptbestandteile in natürlichen Harzen wie beispielsweise im Kolophonium

Name

Abietinsäure

Andere Namen

Sylvinsäure

Abieta-7,14-dien-19-carbonsäure

(1R,4aR,4bR,10aR)-1,4a-dimethyl-7-propan-2-yl-2,3,4,4b,5,6,10,10a-octahydrophenanthren-1-carbonsäure

Summenformel

C20H30O2

   

Schmelzpunkt

172–175 °C

Siedepunkt

250 °C

Löslichkeit

löslich in Ethanol und Diethylether

praktisch unlöslich in Wasser

 Tab. 2: Ameisensäure ist eine farblose, ätzende und in Wasser lösliche Flüssigkeit, die in der Natur vielfach von Lebewesen zu Verteidigungszwecken genutzt wird

Name

Ameisensäure

Andere Namen

Methansäure, Formylsäure

Formalinsäure, Hydrocarbonsäure oder

Formic Acid

Summenformel

CH2O2

Schmelzpunkt

8 °C

Siedepunkt

101 °C (Zersetzung)

Löslichkeit

mischbar mit Wasser, Ethanol, Glycerin und Diethylether

Tab. 3: Die Kristalle der Bernsteinsäure sind in siedendem Wasser gut löslich 

Name

Bernsteinsäure

Andere Namen

Butandisäure

Succinylsäure

Succinic Acid

E363

Summenformel

C4H6O4

Schmelzpunkt

185–190 °C

Siedepunkt

235 °C

Löslichkeit

löslich in Wasser

Bernsteinsäure

Dass sich aus Bernsteinen – einst die Todesfallen für prähistorische Ameisen – eine farblose, kristalline, aliphatische Dicarbonsäure gewinnen lässt, entdeckte 1546 der deutsche Mineraloge Georgius AgricolaDass sich aus Bernsteinen – einst die Todesfallen für prähistorische Ameisen – eine farblose, kristalline, aliphatische Dicarbonsäure gewinnen lässt, entdeckte 1546 der deutsche Mineraloge Georgius AgricolaObgleich der Schmelzpunkt etwas höher liegt, deutet der Siedepunkt darauf hin, dass die Säure verdampft und/oder sich zersetzt, gerade wenn die Höchsttemperatur im Ofen erreicht wird.

Wie wir alle wissen, wird noch immer feste gelötet – und wohl mehr als jemals zuvor. Also müssen neben dem Einsatz von Stickstofföfen und Kondensationsanlagen auch weitere ‚Kartentricks' verwendet werden, um den Oxiden beizukommen. Da die Standards und Normen den Entwicklungen weit hinterherhinken (schließlich werden sie von den Flussmittelherstellern geschrieben),darf man ruhig annehmen, dass mehrere Zutaten verwendet werden, die eigentlich kritisch sind – meist unter dem Prozentsatz, der in den Beschreibungen ausgewiesen werden sollte.

Neue Ansätze werden auch gemacht, und nicht wenige basieren auf alten, einst verworfenen Praktiken. So kommen wir dann wieder zu den gezinkten Karten, denn wie sonst müsste man Methoden erfinden, die ‚Total Halogen Content in Halogen-Free Fluxes' (Gesamthalogeninhalt in halogen-freien Flussmitteln) aufspüren können?

Literatur

Yanrong Shi et al.: The Role of Organic Amines in Soldering Materials, IPC APEX EXPO Conference Proceedings
Kamila Piotrowska et al.: Corrosion reliability of electronics: the influence of solder temperature on decomposition of flux activators, https://www.researchgate.net/publication/331439191
Emmanuelle Guéné; Céline Puechagut: Development of a Suitable Flux Medium for Cleanable and No-Clean Solder Pastes Based on Tin-Bismuth-Silver Alloy, SMTA Proceedings
Christopher J. Pontius et al.: Determination of Total Halogen Content in Halogen-Free Fluxes by Inductively Coupled Plasma and some Limitations of Ion Chromatography, Proceedings of SMTA International, Sep. 27 - Oct. 1, 2015, Rosemont, IL

Referenzen

[1] Begriff aus dem Rotwelsch, einem Soziolekt gesellschaftlicher Randgruppen, der oft diffamierend als ‚Gaunersprache' bezeichnet wird
[2] D. Baluch; G. Minogue; Fundamentals of solder paste technology, Global SMT & Packaging – December 2007
[3] www.science.org/doi/10.1126/<br />science.abg1134
[4] www.unido.org/our-focus-safeguarding-environment-implementation-multilateral-environmental-agreements/montrealprotocol

Additional Info

  • Ausgabe: 11
  • Jahr: 2022
  • Autoren: Armin Rahn

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