Paolo Gabrielli, Senior Scientist an der ETH Zürich, Interview: Corinna Herbst
Die chemische Industrie ist für 5 % der globalen CO2- Emissionen verantwortlich. Angesichts der weit verbreiteten Verwendung kohlenstoffreicher Rohstoffe steht die Dekarbonisierung der Industrie jedoch vor großen Herausforderungen.
Wie können wir den Übergang von fossilen Rohstoffen zu nachhaltigeren Alternativen in der Chemieindustrie effektiv gestalten?
Obgleich der besonderen Herausforderungen bei der Dekarbonisierung dieser Industrie gibt es inzwischen mehrere technologische Wege zur Herstellung von Chemikalien mit Netto-CO2-Emissionen auf der Grundlage von Biomasse, Recycling und Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung. Bei der Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) werden Chemikalien aus fossilen Brennstoffen wie beim Business-as-usual (BAU) unter Verwendung der derzeitigen organischen Chemie synthetisiert. Allerdings werden alle entlang der Kette entstehenden CO2-Emissionen abgeschieden und in geeigneten unterirdischen geologischen Strukturen oder in Baumaterialien dauerhaft gespeichert. Das CO2 kann, sofern verfügbar, von punktuellen Emittenten (wie Raffinerien oder Ammoniakproduktionsanlagen), durch direkte Abscheidung aus der Luft (DAC) oder durch eine Kombination dieser Verfahren abgeschieden werden. Insgesamt sind CCS-Routen heute in kommerzieller Größenordnung verfügbar. Sie gelten zwar als Schlüssel zur Verringerung der Emissionen schwer abbaubarer Industriezweige, sind jedoch von der weiteren Nutzung fossiler Brennstoffe und der Verfügbarkeit großer CO2-Speicherkapazitäten abhängig, was zu Problemen bei der sozialen Akzeptanz der CCS-Einführung führt.
»Es gibt mehrere Wege zu einer CO2-freien Chemieindustrie«
Welche Optionen gibt es noch?
Bei der Kohlenstoffabscheidung und -verwertung (CCU) erreicht die chemische Industrie Netto-Null-Kohlenstoffemissionen, indem sie die Herkunft des Kohlenstoffs für C-basierte Chemikalien austauscht: von fossilem Kohlenstoff zu dem Kohlenstoff im CO2, der zuvor aus punktuellen Emittenten und/oder aus der Luft abgeschieden wurde. CCU erfordert die Entwicklung einer neuen chemischen Industrie, organische Chemie und Katalysatoren, die CO2 in das gewünschte C-basierte Produkt umwandeln, sowie kohlenstoffarmen Wasserstoff und Energie als Inputs für die Produktsynthese, da diese nicht mehr aus fossilen Kohlenwasserstoffen gewonnen werden. Darüber hinaus würden CCU-Strategien die Entwicklung und den Einsatz großer CO2- und Wasserstoffinfrastrukturen für den Transport von CO2 und Wasserstoff von der Produktion zu den Verbrauchsorten erfordern. Biomasse enthält sowohl die Kohlenstoff- und Wasserstoffatome als auch die für die Synthese chemischer Produkte erforderliche Energie. Die chemische Struktur von Biomasse-Rohstoffen ist jedoch ungünstiger als die von fossilen Brennstoffen, bspw. im Hinblick auf den höheren Wassergehalt und den geringeren Energiegehalt.
Welche Bedeutung könnte Biomasse bei der Dekarbonisierung der Chemieindustrie haben?
Bei der Nutzung von Biomasse wird das CO2 während des Biomassewachstums durch Photosynthese aus der Luft gebunden und dann bei der Synthese und am Ende der Lebensdauer des Produkts auf Biomassebasis freigesetzt, so dass die CO2-Emissionen netto null betragen. Während Biomasse ein vielversprechender Rohstoff für den Aufbau einer neuen chemischen Industrie ist, gilt dies auch für mehrere andere Sektoren. Daher könnte ihr Einsatz durch ihre Verfügbarkeit und die für ihren Anbau erforderlichen Land- und Wasserressourcen behindert werden. Wenn sie verfügbar ist, kann Restbiomasse als Rohstoff verwendet werden, ohne die verfügbaren natürlichen Ressourcen zu beeinträchtigen.
Erstveröffentlichung in der GIT-Labor-Fachzeitschrift 11-12/2023
INFO
Paolo Gabrielli ist Senior Scientist an der ETH Zürich, wo er den Übergang zu Netto-Null-Emissionen in Energiesystemen und der chemischen Produktion untersucht. Er hat einen B.Sc. und M.Sc. in Energie- und Nukleartechnik von der Universität Bologna und einen Doktortitel der ETH Zürich, für den er mit dem Hilti-Preis 2021 ausgezeichnet wurde. Bevor er an die ETH Zürich kam, arbeitete er in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von General Electric Aviation und im Bereich erneuerbare Energien bei South Pole.
Das ganze Interview lesen Sie online auf Wiley Analytical Science unter: https://t1p.de/84ige