Kolumne: Anders gesehen – Das Haar in der Suppe

Kolumne: Anders gesehen – Das Haar in der Suppe

Ein Haar in der Suppe kann einem echt den Appetit verderben, wie schon Wilhelm Busch bemerkte.[1] Mit spitzen Fingern fischt man es heraus und wedelt damit demonstrativ vor den Augen der entsetzten Mutter herum, womit man auch dem Vater und der Schwester den Genuss an dem feinen Gericht vermasselt. Schon bei Grimmelshausen [2] findet man solche Berichte, also lange vor der Erkenntnis, dass es Bakterien und Viren gibt. Das Grauen vor dem Haar auf dem Teller muss also auf andere Emotionen zurück gehen.?

Abklatsch der Hand auf einem Nährboden aus Hefe-Dextrose-Agar mit anschließender 24-stündiger Inkubation bei 37 °C [4]Abklatsch der Hand auf einem Nährboden aus Hefe-Dextrose-Agar mit anschließender 24-stündiger Inkubation bei 37 °C [4]Dass der Mensch nicht gerade das sauberste Schweinchen ist hat sich seit Semmelweis [3] rumgesprochen und so scheuern sich die Chirurgen vor jeder Operation beinahe wund während in der elektronischen Industrie kaum jemand auf die Konsequenzen achtet. Immerhin demonstrierten schon vor geraumer Zeit jene Verkäufer, die Geräte für SIR Tests vermarkteten, die Empfindlichkeit ihrer Instrumente indem sie potentielle Käufer eine saubere Leiterplatte handhaben ließen und ihnen dann nachwiesen, dass alleine durch die Berührung diese dann den strengen Vorgaben des amerikanischen Militärs nicht mehr genügten. Ob der Nachweis des Drecks am Finger den eifrigen Kunden beleidigte, ist nicht verzeichnet. Inzwischen hat sich viel in der Elektronik geändert. Die weit niedrigeren Spannungen sowie die dramatisch verkleinerten Abstände zwischen Bauteilen oder Anschlüssen an ihnen – Rastermaße von 0,3 mm und darunter finden sich auf den Baugruppen – haben das Produkt empfindlicher gemacht. Zwar konzentriert sich die Industrie weitgehend auf Verunreinigungen durch Flussmittel und Pastenrückstände, aber andere Quellen für den vorgefunden ‚Dreck' gibt es ebenfalls. Man muss immer wieder auf die Verunreinigungen aufmerksam machen, die durch die Bauteile und die Leiterplatte eingeschleppt werden. Dazu kommen dann noch Verpackung, Umwelt (eine tolle Quelle für Schwefel), Maschinen und nicht zuletzt natürlich auch der Mensch. Bezüglich einer Verunreinigung hat man zwei Situationen zu berücksichtigen: Ist sie vor oder nach dem Löten auf die Leiterplatte gelangt?

Verunreinigungen, die vor dem Löten vorhanden sind – aus welcher Richtung auch immer – haben Auswirkungen sowohl auf die Lötfähigkeit wie auch auf die Endverschmutzung. Bei den verbleibenden Rückständen muss man bedenken, dass sie sowohl (mindestens) einen Temperaturausflug durchgemacht haben wie auch dem Flussmittel (eventuell aus der Paste) ausgesetzt waren. Somit kann man mit Verdunstung, Zersetzung wie auch chemischen Reaktionen rechnen. Das gilt nicht, wenn die Kontamination erst nach dem Löten entsteht. In diesem Fall stammen irgendwelche Auswirkungen von dem Schmutz direkt ohne Veränderungen. Obgleich eine Abgrenzung nicht sehr scharf gezogen werden kann, unterscheidet man allgemein drei Arten der Verunreinigung:

  • korpuskulare (Partikel)
  • ionische (leitfähig werdende) und organische

IPC Testcoupon 24 (TopLine)IPC Testcoupon 24 (TopLine)Korpuskulare sind entweder leitend oder nicht-leitend. Lotperlen, Metallspäne vom Bohren oder Einpressen wären leitend, während Plastikpartikel oder kleine Glas- und Keramikscherben nicht leitend sind. Bei ihnen kommt es dann auf die Größe drauf an und ob sie sich auf der Leiterplatte bewegen können. Organische sind zum Beispiel Öle, Harze oder Fette, die aber auch ionische Verunreinigungen enthalten können. Sie machen sich meist bei Kontaktschwierigkeiten bemerkbar oder bei Haftungsproblemen des Eingussmaterials. Am kritischsten werden die Verunreinigungen gesehen, die (meist unter Luftfeuchtigkeit) leitfähig werden können. Salze und Säuren sind die bekanntesten, wobei große Unterschiede in ihren Auswirkungen zu finden sind, weswegen Halogene wie Chlor und Brom auf der Baugruppe gefürchtet werden. Ihre Langzeitauswirkungen können eine respektable Reihe teurer Probleme verursachen. Unter den vielen Untersuchungen stechen daher vor allem jene, die sich SIR (Surface Insulation Resistance = Oberflächenwiderstand) Messungen widmeten, ins Auge. Sie sind natürlich auch simpler zu interpretieren als andere, die man nicht einfach in eine Klimakammer sperren kann. Dankenswerterweise hat sich vor Kurzem ein Kollege [5] in Amerika den Spaß erlaubt, sich den Schweiß von der eigenen Stirne zu wischen und ihn sowie einige andere Verunreinigungen auf deren Effekt bezüglich des Oberflächenwiderstands zu testen, die ganze Untersuchung nicht ohne ein gewisses Augenzwinkern:

  • Öl von menschlicher Haut/Schweiß
  • Reflow-Ofen-Kettenöl
  • Pizzafett – Pepperoni und Käse
  • Handcreme
  • Leitungswasser – stammt aus einem unterirdischen See und ist chloriniert
  • Lotpaste – halogenfrei, Pb-frei (SAC305), no-clean Lotpaste

Schema des IPC-B-24 SIR-Testmusters (Abstand; Linie 0,4 mm; Spur 0,5 mm).Schema des IPC-B-24 SIR-Testmusters (Abstand; Linie 0,4 mm; Spur 0,5 mm).Die Versuche folgten den Vorgaben des IPC J-STD-004B SIR (Surface Insulation Resistance) mit dem Verfahren nach IPC-TM-650 2.6.3.7 und verwendeten den IPC-B-24 SIR Testcoupon. B-24 ist nicht das neueste Kammmuster und weist mit Linie = 0,4 mm / Zwischenraum = 0,5 mm kein wirkliches Feinrastermerkmal auf. Das neuere B-51 wurde etwas besser an gegenwärtige Bedingungen angepasst. Immerhin kann man dennoch gewisse Tendenzen sichtbar machen. Nimmt man die Kontrollkarten als Basis, dann lagen die so ungefähr bei einem Widerstand von 1 x 1012 bis 1 x 1013 Ohm/Quadrat. Die anderen Resultate seien hier kurz aufgelistet:

Schweiß und Hautöl

Roh, also ohne einen Temperaturausflug waren die SIR-Werte etwa zwei bis drei Größenordnungen (also auf 1 x 1010 bzw. 1 x 109 Ohm/Quadrat) niedriger als bei dem sauberen Coupon. Das verbesserte sich jedoch nach einem Durchlauf durch den Reflowofen auf nur eine Größenordnung niedriger. Auch bei gleichzeitiger Verwendung von Flussmittel und einem Lötvorgang entsprachen die Resutate in etwa jenen bei denen nur Flussmittel verwendet wurden.

http://eprintspublications.npl.co.uk/id/eprint/571 (Abruf: 03.07.2024).

Hochtemperaturöl für Ketten in Reflow-Anlagen

Als organische Verunreinigung beeinträchtigt es den Widerstand wenig. Auch ohne Temperaturausflug lag die SIR-Messung bei 1 x 1011 Ω/Quadrat also nur eine Größenordnung unter dem Kontrollkammmuster. Das änderte sich auch kaum mit Paste und Erhitzung, wobei die Paste wohl einen Abfall um eine weitere Größenordnung beitrug.

Pizzafett

Während frisches Fett den SIR-Wert um etwa 2 oder 3 Größenordnungen beeinträchtigte, verbesserte sich der Wert nach dem Reflow und behauptetete sich stabil bei einem Abfall um nur 2 Größenordnungen. Auch mit Lotpaste änderte sich das kaum und den Tester überraschte das, denn er hatte bei der amerikanischen Pizza mehr Salz im Öl erhofft, was mit dem enthaltenen Chlor (Salz = NaCl) doch einen stärkeren Abfall hätte erwarten lassen.

Handcreme

Die verwendete Handcreme (eine Marke ist nicht angegeben) schnitt im Rohzustand schlecht ab, denn der Wert sank um vier bis fünf Größenordnungen. Offensichtlich verflüchtigen sich aber einige relevante Teile während des Reflowvorgangs, denn nach der Erwärmung näherte sich der SIR-Wert jenem der Kontrollkarte an.

Leitungswasser

Das Verhalten der Muster war ausnehmend unstet und lag unter jenem der Kontrollgruppe und der Karten mit Paste. Dieses ungleichmäßige Verhalten könnte man auf den Gehalt an Chlor und eventuell Kalzium, das ebenfalls nachgewiesen wurde, zurückführen.

Somit kann man vielleicht den Schluss ziehen, dass jene aus der menschlichen Umgebung stammenden Verunreinigungen, die das Benetzen mit Lot erschweren, als Korrosionsverursacher kaum eine Rolle spielen, während jene, die beim Löten kaum stören oder gar hilfreich sein könnten, auf dem Fertigprodukt eventuell Schwierigkeiten verursachen.

Will man mehr wissen, müssen zusätzliche Methoden verwendet werden, wie etwa:

  • ROSE / SEC Test (TM650, 2.3.25)
  • Modifizierter ROSE Test (TM650, 2.3.25.1)
  • Ionen-Chromatographie (TM650, 2.3.28)
  • Elektrochemische Migration
  • Durchschlagfestigkeit oder Spannungsfestigkeit
  • Hochfrequenzveränderungen wegen vorhandener Rückstände

So meint mein ‚Freund' und hochgeschätzter Dichter Hebbel [6] dazu: „Mancher findet nur darum ein Haar in der Suppe, weil er das Haupt schüttelt, solange er isst.“

Belastungstest mit Monitoring an elektronischen BaugruppenBelastungstest mit Monitoring an elektronischen Baugruppen

Referenzen

[1] „Ein Haar in der Suppe mißfällt uns sehr, selbst wenn es vom Haupt der Geliebten wär.“ (Wilhelm Busch: Aphorismen und Reime).
[2] Grimmelshausen, Simplicissimus 4, 234: „Weil er auch in einem Ei ein Haar finden könne, solle er sagen, woran es dieser Tafel mangele“.
[3] Ignaz Philipp Semmelweis (eigentlich: Semmelweis Ignác Fülöp) 1818 – 1865.
[4] Beschreibung aus 4-Uhr-Position gegen den Uhrzeigersinn:
Abdruck eines ungewaschenen Fingers;
Fingerabdruck der mit Warmwasser und Seife gewaschenen und anschließend getrockneten Hand;
Fingerabdruck der mit Warmwasser und Seife gewaschenen und anschließend getrockneten Hand mit anschließender Händedesinfektion.
[5] E. Bastow; The Effects of Human-Induced Contamination on PCB Assembly Electrical Reliability; IPC APEX EXPO Conference Proceedings.

[6] Christian Friedrich Hebbel (1813 – 1863).

 

 

 

  • Titelbild: Verliebtes Paar beim gemeinsamen Kochen. Auch wenn die zwei Turteltauben ihre Haare zurückgebunden haben, kann es rasch passieren, dass sich eines später auf den Teller verirrt und die romantische Stimmung abkühlen lässt.
  • Ausgabe: Juli
  • Jahr: 2024
  • Autoren: Prof. Armin Rahn
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