Im Gegenteil - Konstruktion statt Reduktion

Im Gegenteil - Konstruktion statt Reduktion

Zu den erfolgreichen Ansätzen des wissenschaftlichen oder philosophischen Nachdenkens über die Gegenstände in der Welt gehörte das Denken, das in Gelehrtenkreisen als Reduktionismus bekannt war. Gemeint ist eine Rückführung. Man wollte Wasser als H2O verstehen und versuchte deshalb, etwa die Eigenschaft des Lebenselixiers, flüssig zu sein und nass zu machen, auf die Qualität dieser Moleküle und ihrer Struktur zurückzuführen. Man hielt an diesem Vorgehen fest, auch wenn es nie zu einem überzeugenden Erfolg geführt hat.

Es gibt eine medial vielfach präsente Gruppe von Physikern, die die Materie in Riesenbeschleunigern in ihre letzten Bestandteile zerlegen wollen, die dann Elementarteilchen heißen. Diese Art der Wissenschaft ist Reduktionismus in reinster Form, und der Ansatz findet öffentliches Interesse und finanzielle Förderung, weil er verspricht, an seinem Ende die fundamentalen Gesetze angeben zu können, auf denen die Welt basiert.

Tatsächlich beeilen sich die beteiligten Fürsprecher, den Eindruck zu erwecken, dass sich aus den aufzuspürenden Grundgesetzen das ganze Universum rekonstruieren lasse, wobei es konkret heißt, dass auf jeden Fall die gesamte Chemie und auch die Biologie aus den Basisregeln abgeleitet werden könne. Zwar seien die Gleichungen ab und zu sehr kompliziert, aber mit Hilfe von Computern ließen sich numerische Lösungen finden und mit ihnen das Geschehen berechnen.

Während einige Stars der Wissenschaft ihre politischen Runden drehten und Geld für ihre Experimente einsammelten, fiel einigen ihrer weniger im Rampenlicht stehenden Kollegen auf, dass das Gegenteil von dem passierte, was die Hochenergiephysik verkündete. Je näher die Elementarteilchen­experten ihren angekündigten fundamentalen Gesetzen kamen, desto weniger Relevanz schien das Gefundene sowohl für die verbleibenden realen Probleme der Physik als auch für die drängenden Fragen der Gesellschaft zu haben. In beiden genannten Fällen gilt es, einen bereits bei Aristoteles zu lesenden Satz ernst zu nehmen, den jedes Kind schon einmal gehört hat. „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“.

Die Flüssigkeit Wasser ist mehr als die Summe seiner Moleküle H2O, die bekanntlich selbst nicht nass sind. Mit anderen Worten: Der Reduktionismus funktioniert nicht mehr, nur hat das Gegenteil noch keine ausreichende Popularität gefunden, um kopfnickend begrüßt und gefördert zu werden. Gemeint ist die Idee der Emergenz. Qualitäten tauchen plötzlich auf. Sie emergieren, wenn viele Teilchen kollektiv agieren. Dieser konstruktive Ansatz ist jetzt gefragt.

  • Ausgabe: April
  • Jahr: 2023
  • Autoren: Ernst Peter Fischer
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