KI statt Fachpersonal?

KI statt Fachpersonal?

Frage: Zu Beginn des Jahres fanden in unserer Geschäftsleitung mehrere Sitzungen statt, die sich mit Maßnahmen zur langfristigen Kostensenkung in Anbetracht steigender Ausgaben befassten. Neben den Energiekosten stellen insbesondere die Personalkosten ein wachsendes Problem dar. Ganz darauf verzichten können wir nicht, jedoch streben wir an, bei den kostenintensivsten Mitarbeitern – dem Fachpersonal – Einsparungen zu realisieren. Die Überlegung besteht darin, das Fachwissen durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, Datenbanken und Fachfirmen zu ersetzen, um weitgehend auf hochqualifiziertes Personal zu verzichten. Künftig soll nur noch ein Meister oder Techniker eingesetzt werden, anstelle der bisherigen Praxis mit mehreren Meistern, Technikern und Oberflächenbeschichtern. Dies hätte den zusätzlichen Vorteil, dass wir auf Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen sowie die zeitaufwändige Suche nach Fachleuten weitgehend verzichten könnten. In einer Ära von ChatGPT und anderen KI-Technologien sollte die Umsetzung eines solchen Vorhabens heute weniger problematisch sein. Wie würden Sie vorschlagen, ein solches Vorhaben anzugehen?

Antwort: Die Kostensenkung war schon immer ein zentrales Thema in der Industrie, und folglich auch in der Galvanotechnik. Es gab Phasen, in denen neue Ideen und Technologien nicht nur zu effizienteren Verfahren führten, sondern auch zu Massenentlassungen. In der Galvanotechnik sind Beispiele hierfür der Wegfall zahlreicher mechanischer Bearbeitungen (Schleifen, Polieren etc.) durch verbesserte Verfahren wie Einebner und Glanzbildner, Elektropolierung und ähnliches, oder allgemein die Einführung von Galvanoautomaten und später Robotertechnik.

Die Kostensenkung war schon immer ein zentrales Thema in der Industrie, und folglich auch in der Galvanotechnik

Es liegt nahe, den nächsten Schritt mithilfe aktueller KI-Technologien zu vollziehen. Allerdings sollte dies von Anfang bis Ende gründlich durchdacht werden, um irreversible Schäden durch einen unüberlegten Versuch zu vermeiden. Nachfolgend beleuchten wir einige Perspektiven, die uns besonders wichtig erscheinen. Sie sind sehr allgemein gehalten. Wenn Sie Ihren Betrieb betrachten, werden Ihnen sicherlich weitere spezifische Punkte einfallen.

Der aktuelle Stand der KI

Seit unserem Bericht hat sich zwar einiges getan, dennoch steckt diese Technologie noch in den Kinderschuhen [1]. Eine wesentliche Änderung seit dem besagten Artikel sind die zahlreichen neuen KIs, die wie Pilze aus dem Boden schießen und teilweise Open Source sind. Das hat den Vorteil, dass jeder selbst damit experimentieren und ggf. seine eigene KI erstellen kann, die individuellen Ansprüchen genügt.

Allerdings ist das weitestgehend Theorie. In der Praxis haben solche Programme aktuell den Stand eines Assistenten, der gelegentlich an Halluzinationen leidet. Dies wird mit neuen Ansätzen versucht zu bekämpfen, aber es gibt zumindest bei den allgemeinen Chatbots unseres Wissens und beim derzeitigen Stand noch keine wirklich fehlerfreie Version, auf deren Antworten man sich immer zu 100 % verlassen kann.

Ein weiteres Problem ist, dass insbesondere die Galvanotechnik ein extrem spezialisierter Bereich ist. Selbst die Fachliteratur hält sich, gemessen an anderen Industriezweigen, in sehr engen Grenzen. Sogar Informationen aus dem Internet sind bestenfalls lückenhaft, häufig sogar grundlegend falsch. Das führt zu entsprechend schlechten Trainingsdaten, die für die Entwicklung einer KI auf Basis von Neuronalen Netzen gebraucht werden und somit zu schlechten Resultaten.

Um ein brauchbares Resultat zu erzielen, benötigen Sie ein KI-Modell, welches Sie zunächst mit eigenen Daten trainieren müssten. Dies bedingt, dass sie selbst über einen solchen Datensatz verfügen. Die praktische Umsetzung sieht dann so aus, dass sie entweder auf eine Open Source Lösung setzen und entsprechende Hochleistungsrechner beschaffen, oder sich auf eine externe Lösung wie OpenAI und andere verlassen. Alleine der Aufbau eines geeigneten Datensatzes wird allerdings sehr viel Zeit – und somit Geld – beanspruchen, da die Auswahl und Bearbeitung der benötigten Daten von Fachleuten vorgenommen werden muss. Von einem kleineren Betrieb ist dies kaum zu stemmen. Sie wären somit auf weitere Partner angewiesen.

Abhängigkeiten

Sollte irgendwann tatsächlich alles wie gewünscht funktionieren, kann dies ein großer Gewinn für ein Unternehmen sein. Allerdings sollten auch die Abhängigkeiten betrachtet werden. Derzeit sind Sie zwar von Ihren Fachleuten in gewisser Hinsicht abhängig, aber dies würde sich intensivieren und verschieben.

Vor nicht einmal so langer Zeit herrschte der Trend vor, Fachwissen an Lieferfirmen auszulagern

Vor nicht einmal so langer Zeit herrschte der Trend vor, Fachwissen an Lieferfirmen auszulagern. Galvaniken mit hundert oder mehr Mitarbeitern hatten oft nicht einmal eine Hand voll Fachleute und die Lieferfirmen sollten sich um möglichst jedes Problem kümmern. Dies führte zu mehreren Problemen. Die Technologiehoheit war nicht mehr im Haus, sondern extern angesiedelt. Bei Reklamationen und internen Problemen konnte kaum noch, teilweise überhaupt nicht mehr, von den Galvaniken reagiert werden. Auf die Kosten wirkte sich dies ebenfalls nicht positiv aus und ein Lieferantenwechsel wurde aufgrund der Abhängigkeit und teils langfristigen Verträgen ebenfalls zu einem Problem. Hinzu kommt, dass man sich – in Ihrem Beispiel – zwar nur noch von einer Fachperson abhängig macht, aber dafür umso intensiver. Wenn Sie alles auf eine Karte setzen und der Meister Ihres Vertrauens eines Tages – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr zur Arbeit kommen kann, haben Sie ein sehr ernstes Problem. Das ist, als würden Sie ein Haus mit nur einer tragenden Säule bauen.

Weitere Abhängigkeiten bestehen durch externe Firmen wie OpenAI und dergleichen sowie möglicherweise externe Informatiker. Im schlimmsten Fall arbeiten Sie mit Menschen, die Sie nicht kennen und setzen auf Technologien, die Sie nicht verstehen, in der Hoffnung, dass alles klappen wird. Aus unserer Sicht haben Sie dann, nach dem aktuellen Stand der Technik, das Haus auch noch auf Sand gebaut.

Erfahrungen und menschliche Sensoren

Was unserer Meinung nach einen Fachmann ausmacht, sind nicht nur die Daten, Fakten und Verfahrensabläufe, die er im Kopf hat, sondern seine langjährigen Erfahrungen. Ohne die Galvanotechnik mystifizieren zu wollen, besteht sie dennoch nach wie vor aus mehr als der Summe ihrer bekannten Teile. Einige Firmen sind derzeit dabei, dies per KI zu kompensieren [2]. Hier werden digitale Zwillinge der Produktion angelegt und somit die KI trainiert. Dadurch wird sie in die Lage versetzt, immer zuverlässiger Prognosen zu liefern.

Dies ist mit einem immensen Aufwand verbunden und dient – zumindest derzeit – nicht als Ersatz, sondern eher als Assistent. Außerdem ist dieser technische Ansatz sehr individuell und jede Galvanik muss den selben Aufwand betreiben, um eine solche KI mit den eigenen Daten zu trainieren. Dies geht selbst bei Ausschöpfung aller derzeitigen technischen Möglichkeiten nicht flächendeckend über die ganze Produktionskette – zumindest nicht mit überschaubaren Kosten. Ein erfahrener Galvaniker sieht viele Dinge auf den ersten Blick. Er fasst die Ware an und erkennt schnell Unterschiede in der Rauheit, dem Aussehen und Gewicht. Dies alleine in der Eingangskontrolle zu ersetzen führt zu hohen Investitionskosten.

Ebenso darf man folgenden Aspekt nicht vernachlässigen: Die KI wird zwar immer mehr dazulernen, ab einem gewissen Punkt wird sie auch die geistigen Kapazitäten des Fachpersonals deutlich überschreiten, aber was in dieser Konstellation auf Dauer völlig verloren gehen wird, ist der Input von Außen. Diese neuen Perspektiven und gemachten Erfahrungen sind es, die neue Mitarbeiter so wertvoll machen.

Haftungsprobleme

Was bisher ungeklärt ist, ist das Problem der Haftung, was hier juristisch und nicht oberflächentechnisch gemeint ist. Wer ist juristisch dafür haftbar, wenn die KI prozesstechnische Entscheidungen trifft, die bspw. zu einer kostspieligen Rückrufaktion führen? Wie sieht es diesbezüglich mit der Versicherung aus?

In vielen Bereichen ist der Umgang mit Künstlichen Intelligenzen Neuland und juristisch, aber auch moralisch, stecken die Diskussionen fest. Ein Beispiel hierfür sind selbstfahrende Autos.

Langfristig führt es dazu, dass der menschliche Spezialist darauf reduziert wird, KI-Entscheidungen abzusegnen

Natürlich können Sie davon ausgehen, dass Ihr Meister/Techniker die letzte Entscheidung fällt und somit für diese – soweit möglich – als Person haftet, aber sie bringen ihn damit in eine unmögliche Situation. Ab einem gewissen Grad der Perfektion wird er nicht mehr einschätzen können, ob die Entscheidung der KI richtig oder falsch ist. Solche Situationen haben wir bereits bei KIs für Spiele wie Schach oder Go, wo selbst absolute Profis häufig nicht wissen, warum die KI-Entscheidung die beste ist und sich blind darauf verlassen müssen. Langfristig führt es dazu, dass der menschliche Spezialist darauf reduziert wird, KI-Entscheidungen abzusegnen, ohne diese zu verstehen. Und am Ende kann es dazu führen, dass im Schadensfall jegliche Argumentationskette fehlt, die zu Fehlentscheidungen geführt hat.

Technologie nicht ohne Menschen

Die Möglichkeiten, welche die aktuelle Technologie bietet und in Aussicht stellt, begeistern und erschrecken zugleich. Aus wirtschaftlicher Sicht mag sogar der Gedanke verlockend sein, dadurch Personalkosten zu sparen. Dem gegenüber steht natürlich auch eine soziale und gesellschaftliche Verantwortung, die man als Unternehmer hat. Deshalb, aber auch aus den oben angeführten Gründen, sind wir der Meinung, dass diese Technologien für die Menschen und nicht dagegen eingeführt werden sollten.

» Künstliche Intelligenz sollte für die Menschen und nicht dagegen eingeführt werden! «

Als Assistenten können sie Ihre Mitarbeiter bei der täglichen Arbeit unterstützen. Für stupide Datenerfassung, etwa über Sensoren, und deren Auswertung sind sie perfekt geeignet. Ebenso für Informationsaustausch und manchmal sogar als Inspirationsquelle, um auf neue Gedanken zu kommen. Als unterstützendes Tool für Aus- und Weiterbildung werden sie ebenfalls immer wichtiger.

Unserer Auffassung nach ist es langfristig immer sinnvoller, Technologien einzusetzen, um mit derselben Anzahl Mitarbeiter mehr zu leisten, wobei sich das „mehr“ auf eine höhere Produktivität, aber auch bessere Qualität beziehen kann. Das Gleiche mit weniger Kosten zu erreichen kann ebenfalls ein Ziel sein, stößt aber sehr schnell an natürliche Grenzen und bietet – unserer Auffassung nach – keine so großen Perspektiven.

Literatur

[1] ChatGPT und die Grenzen der Illusion; Galvanotechnik 114 (2023), Nr. 4
[2] Auf dem Weg zur digitalen Galvanik; Galvanotechnik 113 (2022). Nr. 7

  • Ausgabe: März
  • Jahr: 2024
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