Frage: Seit einigen Jahren werden an einer unserer Gestellanlagen vorwiegend Buntmetalle direkt verzinnt. Abgesehen von der Schichtdicke und der Haftfestigkeit bestand bisher lediglich die Anforderung, dass die Teile schön glänzen sollen. In letzter Zeit mehren sich die Reklamationen. Aus der Oberfläche wachsen Haare, laut Literatur sind das typische Whisker. Eines der Probleme, vor denen wir stehen, ist das Alter der reklamierten Teile. Sie reichen bis zu zwei Jahre zurück, weshalb wir uns damit schwertun, sie aus Kulanz neu zu galvanisieren. Ein weiteres Problem stellt eine dauerhafte technische Lösung dar. Uns wurde angeraten, auf organische Zusätze zu verzichten, was jedoch die Optik massiv beeinflusst. Ein anderer Ratschlag bestand darin, die Teile zu tempern, was das Aussehen ebenfalls negativ beeinträchtigt. Unser Standpunkt ist, dass wir grundsätzlich nicht haften, wenn die Teile so alt sind. Außerdem würde jede Maßnahme die primäre Anforderung, nämlich die Optik, negativ beeinflussen. Würden Sie dem zustimmen?
Antwort: Nein. Was die Annahme von älteren, beanstandeten Teilen betrifft, gibt es ganz unterschiedliche Regelungen und Vereinbarungen. In den meisten Fällen ist die Whiskerbildung auf die Galvanisierung zurückzuführen bzw. lässt sich verhindern, wie wir nachfolgend genauer beschreiben werden. Rein rechtlich werden Sie womöglich einem Großteil der reklamierten Artikel ausweichen können, allerdings laufen Sie Gefahr, den Kunden (oder mehrere) vollständig zu verlieren. Deshalb raten wir dringend zu einer konstruktiven Zusammenarbeit und einen Teil der Kosten als „Lehrgeld“ zu verbuchen. Es hat sich oft gezeigt, dass sich Kunden in solchen Fällen an den Kosten beteiligen, wenn sie schnelle und kompetente Hilfe erhalten und sie zudem das Gefühl haben, dass die Galvanik mit offenen Karten spielt. Nun aber zum technischen Problem.
Was sind Whisker?
Whisker sind fadenförmige Kristalle, die aus einem Metall oder einer Metallschicht im Laufe der Zeit herauswachsen und Schnurrhaaren der Katze ähneln. Im Laufe der Zeit können sie mehrere Millimeter oder gar Zentimeter lang werden. Abgesehen davon, dass sie unschön sind, können sie auch technische Probleme verursachen, z. B. Kurzschlüsse in elektronischen Bauteilen.
Entstehung von Whiskern
Hierfür müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein:
- Innere Spannungen, also Druckspannung
- Hinreichende Temperatur für die Diffusion
- Zeit.
Solange eine Druckspannung besteht und die Temperatur ausreicht, kann es zur Whiskerbildung kommen. Je nach Gesamtkonstellation kann dies einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen, das Problem bleibt jedoch bestehen.
Whisker entstehen bevorzugt durch Diffusion der Schichten untereinander (z. B. bei einer Unterkupferung) und dem Substrat, also dem Buntmetall. Das Wachstum kann über mehrere Monate oder gar Jahre andauern, wobei sich hier intermetallische Phasen bilden. Ob und wie stark Whisker entstehen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dem Elektrolyt, den Abscheidungsbedingungen bzw. Parametern, Dicke und Art der Zwischenschichten, dem Substrat und der Nachbehandlung, um nur einige zu nennen.
Intermetallische Phasen
Intermetallische Phasen (IMP) sind chemische Verbindungen aus zwei oder mehr Metallen, die eine Gitterstruktur aufweisen, die sich von denen der konstituierenden Metalle unterscheidet. Diese Gitterstruktur besteht aus einer Mischbindung aus metallischen und geringeren Atombindungs- oder Ionenbindungsanteilen. Es gibt IMPs mit stöchiometrischer Zusammensetzung gemäß den üblichen Wertigkeiten der Metalle und es gibt auch IMPs, die mehr oder weniger ausgedehnte Homogenitätsbereiche im Phasendiagramm besitzen. Diese Homogenitätsbereiche, auch Phasenbreite genannt, geben den Bereich an, in dem das Mengenverhältnis der verschiedenen Metalle variieren kann. Im Vergleich zu Ordnungsphasen sind IMPs stabiler, jedoch hart, spröde und schlechte Elektronenleiter. Mit zunehmend einfacheren Mengenverhältnissen und engeren Homogenitätsbereichen sowie einfacheren Gittertypen steigt die Resonanz zu einem nichtmetallischen Bindungsanteil. Aufgrund des modifizierten Kristallaufbaus besitzen IMPs andere physikalische und chemische Eigenschaften wie Härte oder Kontaktwiderstand.
Ein paar Beispiele:
Cu6Sn5: hexagonale η-Phase
Cu3Sn: hexagonal dichtest gepackte ε-Phase
Ni3Sn4: stabile Phase, monokline Struktur
NiSn3: metastabile Phase, die in keinem Ni-Sn-Phasendiagramm beschrieben ist.
Die Diffusion beschreibt den Prozess, bei dem einzelne Atome, Ionen oder Teilchen durch das Gitter wandern, um Wege zu gehen, die größer sind als der Atomabstand. Dies führt zu einem makroskopischen Massentransport. Bei Metallen ist diese Durchdringung im Festkörper von besonderer Bedeutung. Es ist ein statistischer Vorgang, bei dem die Wanderung der Atome aufgrund von Unterschieden in der Konzentration stattfindet. Es gibt verschiedene Arten von Diffusion:
- Volumendiffusion
- Korngrenzendiffusion
- Oberflächendiffusion.
Um Diffusion in einem Festkörper zu ermöglichen, ist es notwendig, die Energie des diffundierenden Atoms vorübergehend anzuheben. Dieser Vorgang erfordert eine Aktivierungsenergie. Die Volumendiffusion benötigt eine höhere Aktivierungsenergie als die Korngrenzendiffusion oder Oberflächendiffusion.
Bei Substitutionsmischkristallen, in denen die Gitterplätze überwiegend besetzt sind, ist der Leerstellenmechanismus der vorherrschende Mechanismus für Diffusion. Hierbei springt ein Atom auf eine benachbarte Leerstelle und hinterlässt eine Leerstelle für ein anderes Atom. Der Diffusionskoeffizient, der das Wachstum bestimmt, hängt von verschiedenen Faktoren wie der Art des Materials, der Konzentration, der Temperatur und dem Diffusionspfad ab.
Der Elektrolyt
Um der Whiskerbildung entgegenzuwirken, setzte man früher bleihaltige Elektrolyte ein, da man bereits ab 1 % Bleianteil in der Schicht der Bildung massiv entgegenwirken kann. Leider ist dies heutzutage nur noch in Ausnahmefällen möglich.
Neuere Zinnelektrolyte werden bereits so entwickelt, dass die Whiskerbildung bei Einhaltung der vorgegebenen Parameter minimiert wird. Diese Elektrolyte enthalten i. d. R. weniger organische Zusätze und bilden Schichten mit größeren Kristallen. Wichtig ist, dass die Schichten möglichst frei von Eigenspannungen sind und es entweder zu keiner oder einer sehr gleichmäßigen Diffusion kommt.
Im Elektronikbereich werden deshalb fast ausschließlich Mattzinnelektrolyte eingesetzt. Der Glanz wird später durch den Reflow-Prozess erzeugt. Hierbei wird die Zinnschicht für kurze Zeit über den Schmelzpunkt erhitzt, was bei der Bandgalvanisierung besonders gut funktioniert. Sobald die Zinnschicht erstarrt, ist die ehemals sehr weiche und matte Zinnschicht etwas härter und glänzend. Das Umschmelzen wird vorgenommen, um die Druckspannung von der Schicht zu nehmen und sofort eine IMP zu bilden, die anschließend, wenn überhaupt, nur noch sehr langsam weiterwächst. Dies wird für Ihre Gestellteile wahrscheinlich keine Option darstellen, erklärt aber zumindest den von Ihnen aufgeführten Vorschlag, die Teile zu tempern. Dies wird auch in der Praxis, bspw. der Feuerverzinnung von Bändern, durchgeführt, um die IMP wachsen zu lassen. Beim Tempern kommt es nicht zu einem Aufschmelzen der Schicht, es sollte aber in einem sauerstofffreien Ofen getempert werden, um die Optik nicht negativ zu beeinflussen. Sie sollten sicherstellen, dass Sie über einen aktuellen Elektrolyttyp verfügen. Außerdem sollten die Badparameter, Sn(IV)-Gehalt und Organik kontrolliert und korrigiert werden.
Zwischenschichten
Der Einsatz von Zwischenschichten hat im Elektronikbereich verschiedene Gründe, auf die wir an dieser Stelle nicht näher eingehen möchten. Um Whisker effektiv zu verhindern oder zumindest zu minimieren, raten wir Ihnen dringend dazu, vor der Verzinnung zu vernickeln. Ein wirksamer Schutz tritt bereits ab einer Schichtdicke von 0,5 µm auf. Mit der Zeit bilden sich NiSn3 und Ni3Sn4 IMPs.Die Nickelschicht ist eine Barriereschicht, auch Diffusionssperre genannt. Die sich ausbildende IMP ist somit sehr gering, die Wachstumsgeschwindigkeit beträgt rund ein Viertel einer Cu6Sn5 Phase.Eine solche Zwischenschicht ist aber nicht als Allzweckwaffe zu sehen. Wenn es zusätzlich Probleme mit dem Zinnelektrolyten gibt, können Whisker bei einer höheren Zinnschichtdicke auch trotz Nickelzwischenschicht entstehen. Es ist wichtig, auf alle o. g. Punkte zu achten und den Lieferanten der Badchemie mit ins Boot zu holen.
Abwicklung der Reklamation
Neben den Maßnahmen zur Elektrolytzusammensetzung und dessen Zustand müssen Sie abklären, ob eine Nickelzwischenschicht zulässig ist. Bezogen auf die Kosten haben Sie unserer Ansicht nach in den Verhandlungen mit dem Kunden sogar einen guten Hebel, wenn auf den Zeichnungen und Bestellungen nichts von einer Vorvernickelung steht, da dies zur Verhinderung der Whiskerbildung bei einer galvanischen Verzinnung elementar ist. Weisen Sie den Kunden auf die technische Notwendigkeit hin, auch wenn die Kosten für die Beschichtung steigen werden. Bitten Sie ihn, die Zeichnungen für die Zukunft entsprechend abzuändern.Außerdem sehen wir es als guten Ton an, den Kunden über die getroffenen Maßnahmen bezüglich des Elektrolyten zu informieren. Dies stellt unserer Erfahrung nach ggf. verlorenes Vertrauen wieder her.