Der digitale Zwilling des THT-Lötprozesses

Der digitale Zwilling des THT-Lötprozesses

Heutige DfM-Checks berücksichtigen die speziellen Eigenschaften von THT-Lötstellen mit deren Risiken nur unzureichend. Um über die THT-Lötbarkeit zu entscheiden, muss die THT-Lötstelle im Kontext des Fertigungsprozesses bewertet werden. Doch das können regelbasierte DfM-Guidelines naturgemäß nicht leisten. Neue hybride KI und Simulationsansätze zeigen, wie kritische THT-Lötstellen schon im Design erkannt werden können und wie ohne manuellen Aufwand THT-Lötprogramme generiert werden können.

Recent DfM checks do not adequately take into account the special properties of THT solder joints and the risks they pose. To determine THT solderability, the THT solder joint must be evaluated in the context of the manufacturing process. However, rule-based DfM guidelines are naturally unable to do this. New hybrid AI and simulation approaches show how critical THT solder joints can be identified during the design phase and how THT soldering programmes can be generated without manual effort.

1. Das kostspielige THT-Problem

1.1. Zeitdruck in Entwicklungsprojekten und der Fertigung

Abb. 1: THT-Lotdurchstieg als dominantes THT-QualitätskriteriumAbb. 1: THT-Lotdurchstieg als dominantes THT-QualitätskriteriumJe später Design-Änderungen in einem Entwicklungsprojekt nötig werden, weil etwa die Fertigbarkeit von THT-Lötstellen nicht ausreichend gegeben ist, desto teurer und riskanter wird die Änderung. Gleichzeitig ist der Wettbewerbsdruck sowie der Kosten- und Zeitdruck speziell aus Fernost hoch. Ein Redesign bedeutet hohe Zusatzkosten für Leiterplatten, Bauteile und Lötrahmen. Dazu kommen Opportunitätskosten sowie mehrwöchige Materiallieferzeiten für den Musteraufbau, bis das überarbeitete Design verifiziert ist. Weiterhin werden dann Muster oder Serienprozesse durch iteratives Ausprobieren eingestellt, was ebenfalls viel Zeit und Material in Anspruch nimmt. Aus Zeitgründen können dabei auch nicht alle Lötstellen einzeln optimiert werden, weshalb mit Standardparametern gestartet wird und anschließend bei mangelndem Lotdurchstieg der Wärmeeintrag erhöht wird (Abb. 1). Das kann leicht zum Verfehlen von Taktzeitzielen oder thermischer Schädigung und Beeinträchtigung der Lebensdauer und Zuverlässigkeit der Baugruppen führen. Unternehmen verlieren so nicht nur Geld, sondern zusätzlich eine gute Marktposition durch eine spätere Markteinführung der Produkte.

Da THT-Design Guidelines die Lötbarkeit und die THT-Risiken nicht bewerten können und man sich daher auf Erfahrung und Bauchgefühl verlassen muss, erleben Unternehmen hier immer wieder kostspielige Überraschungen.

1.2 Die Lücke zwischen SMT und THT

Für Surface-Mount-Technology stehen heute umfangreiche Design-for-Manufacturing-Bibliotheken zur Verfügung. Entwickler können bereits in der Entwurfsphase zuverlässig beurteilen, ob ihr SMT-Design fertigbar ist. Automatisierte DfM-Checks sind längst Industriestandard. Die THT-Prozessphysik hingegen ist weitaus komplexer, da sie multiphysikalische Einflüsse von Wärmeübergängen, Kapillareffekten sowie Wärme- und Stofftransportmechanismen vereint [1]. Der Prozess läuft mit schnellen thermischen Zeitkonstanten ab, wodurch die Wärmeeinflusszone des orthotropen Leiterplattenlayouts von den Lötparametern abhängt.

Heutige THT-DfM-Tools beschränken sich meist auf Abstände, Wärmefallen und Lochdurchmesser. Darüber hinaus entscheiden Bauchgefühl und Erfahrung über die ‚Lötbarkeit' eines Designs – eine objektive, präzise Einschätzung ist schwierig bis unmöglich. Um belastbare Aussagen zu Prozessgrenzen und Lötbarkeit treffen zu können, müssen die nichtlinearen, multiphysikalischen Eigenschaften des THT-Lötprozesses vollumfänglich berücksichtigt werden. Bestehende Simulationslösungen sind jedoch entweder zu langsam, zu teuer oder zu ungenau für den industriellen Alltag. Während sich die Elektronikbranche digitalisiert und Industrie 4.0 umsetzt, harrt ausgerechnet der kritische THT-Lötprozess noch in seiner digitalen Revolution aus. Entwicklungs- und Prozessingenieure benötigen Lösungen, die anhand von Designdaten schnell belastbare Einblicke zu Fertigungsrisiken und der Kritikalität von THT-Lötstellendesigns ermöglichen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können.

2. Forschungsbasierte Lösungsansätze im Vergleich

2.1 Sieben Jahre systematische Forschung: Vom Problem zur Lösung

Um diese Schwierigkeit zu lindern, wurden in rund sieben Jahren Forschung verschiedene Modellierungsverfahren entwickelt, erprobt und systematisch verglichen [2]. Das methodische Vorgehen folgte einem klaren, iterativen Ansatz:

  • Im ersten Schritt erfolgte eine umfangreiche DOE-basierte Analyse zur Priorisierung der Einflussfaktoren.
  • Im zweiten Schritt folgte die analytische Modellentwicklung thermischer Modellierungsansätze, um die wesentlichen Einflussfaktoren zu verifizieren und ihre Verallgemeinerbarkeit zu prüfen.
  • Der dritte Schritt umfasste die numerische, multiphysikalische Modellierung, die die physikalischen Phänomene vollumfänglich berücksichtigt.
  • Im vierten und finalen Schritt entstanden ML-Modelle auf Basis einer großen Datenmenge mit realen Lötdaten zur Abbildung des n-dimensionalen Datenraums.

2.2 Annahmen und Grenzen von Modellierungen

Wichtig in der industriellen Anwendung ist dabei zu verstehen, dass jedes Modellierungsverfahren seine Annahmen trifft und damit bestimmten Grenzen unterliegt. So wird bei der vorliegenden Arbeit insbesondere vorausgesetzt, dass die Benetzbarkeit von Oberflächen grundsätzlich gegeben ist. Ist das nicht der Fall, sagt das Modell ggf. fälschlicherweise, dass der Lotdurchstieg passt. Die Ursache für diese Abweichung läge dann jedoch nicht im Modell sondern in der Verletzung der Annahmen.

Die Aufgabe in der Modellentwicklung besteht folglich vor allem darin, die Lücke zwischen Realität und Modellierungsansatz so zu verkleinern, dass die Modellergebnisse hinreichend genau sind und einen Mehrwert liefern. Das bedeutet konkret auch, dass in einer möglichst kurzen Zeit möglichst genaue Ergebnisse geliefert werden können. Denn niemand hat unendlich Zeit oder Geld für teure Rechenmaschinen. Für eine objektive Bewertung der entwickelten Modellierungsstrategien wurden klare Vergleichskriterien für die industrielle Tauglichkeit definiert: Zeitaufwand (sowohl Modellbildungszeit als auch Vorhersagedauer), Modellkosten (Lizenzgebühren plus Anwenderschulung), Vorhersagezuverlässigkeit, Übertragbarkeit auf neue Designs sowie Detailgrad der Designbeschreibung. Diese Kriterien spiegeln die realen Anforderungen in der industriellen Entwicklungsumgebung wider.

2.3 Modellentwicklung und Vergleich

Experimenteller Ansatz: Der klassische experimentelle Ansatz zur Bestimmung des Lotdurchstiegs kann zwar zur Definition von Prozessparametern eingesetzt werden wenn physische Prototypen vorliegen, zeigt jedoch strukturelle Nachteile. Neben dem erheblichen zeitlichen Aufwand ist keine Vorhersage ohne physischen Prototyp möglich. Ziel der experimentellen Phase ist somit, den realen Prozess durch Experimentaldaten möglichst akkurat abzubilden [3].

Dadurch wurden zehntausende Lötdatenpunkte aus Lötung und Röntgenuntersuchung an realen industriellen Baugruppen und Testleiterplatten, wie beispielhaft in Abbildung 2 gezeigt, generiert. Auf dieser Grundlage wurden die wesentlichen Einflussfaktoren für den Lötprozess und die Modellierungsstrategien entwickelt. Dabei wurde je nach Szenario die Streuung des Lotdurchstiegs im Realprozess zu etwa 5 bis 10 % festgestellt. Weiterhin können davon grundlegende Designempfehlungen und Prozessmechanismen abgeleitet werden [3, 7]. Damit kann geschlussfolgert werden, dass die Modellierungsgenauigkeit aus technischen Gründen nicht genauer als ca. 10 % Schwankung sein kann. Weiterhin werden in den Abnahmerichtlinien typischerweise Qualitätsgrenzen für den Lotdurchstieg von 75 % oder 100 % verlangt. Vor diesem Hintergrund ist folglich klar, dass ein in der Praxis einsetzbares Modell nicht genauer werden kann und muss, als der Prozess es hergibt.

Abb. 2: Testleiterplatte für Versuchslötungen, systematische Designstudien und Modellentwicklung aus dem IGF Forschungsprojekt SmartSelectiveAbb. 2: Testleiterplatte für Versuchslötungen, systematische Designstudien und Modellentwicklung aus dem IGF Forschungsprojekt SmartSelective

Analytische 1D-Modelle: Der analytische Ansatz zeigt ähnliche Limitationen in abgeschwächter Form [4]. Das Modellergebnis hängt dabei besonders von der Parametrisierung des vereinfachten Lötstellendesigns ab, was ebenfalls Kenntnisse über die Mechanismen des Rechenmodells erfordert. Die Validierung des analytischen Modells anhand von Lötversuchsdaten zeigt eine mittlere Abweichung von 20 bis 30 % zwischen Lötversuch und analytischer Vorhersage – bei einer Standardabweichung im Prozess von 5 bis 15 %.

Multiphysikalische 3D-Simulation: Das multiphysikalische Simulationsmodell weist im Vergleich die präziseste Vorhersagequalität auf [5]. Die Umsetzung eines Multiphysics-CFD-Modells mittels ANSYS-Fluent erlaubt die Berücksichtigung des Lotspaltstroms als Kapillarstrom und ermöglicht quantitativ gute Vorhersagen. Jedoch überwiegt der hohe Aufwand und Investitionsbedarf für Lizenzgebühren sowie die Notwendigkeit von Simulations-Know-how den Nutzen der hohen Vorhersagegenauigkeit von ca. 15 % Abweichung vom Realversuch. Verfahrensbedingt geht die Lösung der CFD-Modelle für jede einzelne Leiterplatte mit hohen Aufwänden für Rechenkapazitäten in GPU oder CPU einher. Dann müsste der Bediener je nach Größe der Leiterplatte mehrere Stunden auf das Berechnungsergebnis warten. Das ist im zeitgetriebenen industriellen Umfeld nicht gern gesehen, zumal die Rechnung für jedes neue Lötparameterszenario erneut anfällt.

Reine ML-Modelle: Der vierte Forschungsschritt umfasste die Entwicklung reiner Machine-Learning-Modelle auf Basis der umfangreichen Datenbasis mit realen Lötdaten zur Abbildung des n-dimensionalen Datenraums [6]. Im Gegensatz zur numerischen Simulation, bleibt der hohe Aufwand bei der Generierung ausreichend großer und hochwertiger Trainingsdatensätze und den Trainingsläufen einmalig. Jede weitere neue Leiterplatte kann dann innerhalb von ca. 0,5 bis 1 s pro Lötstelle vorhergesagt werden. Bei einer praxisnahen Leiterplatte mit ca. 100 Lötstellen hat man somit innerhalb von ca. einer Minute eine Vorhersage. Dabei liegen die Herausforderungen bei reinen datengetriebenen ML-Ansätzen – insbesondere in der begrenzten Erklärbarkeit des Modells – darin, dass etwa neue Materialparameter wieder neue Datensatzgenerierung und Training erfordern.

Fazit: Damit konnte gezeigt werden, dass der Lötprozess insbesondere durch numerische und datengetriebene Modellbildung vor den gegebenen Randbedingungen der Prozessstreuung und den technischen Abnahmekriterien gut beschrieben werden kann. Abbildung 3 zeigt zusammenfassend die systematische Evaluation aller Ansätze: Jeder einzelne Ansatz hat Stärken und Schwächen, die den Praxiseinsatz ergonomisch umständlich erscheinen lassen. Keiner der etablierten Ansätze erfüllt alle Anforderungen des industriellen Alltags. Reine Simulation ist zu rechen-, zeitintensiv und teuer, analytische Modelle zu ungenau und Daten für ein eigenes Modell zu generieren zu aufwändig.

Abb. 3: Forschungsmethodik, Modellentwicklungsprozess und qualitativer VergleichAbb. 3: Forschungsmethodik, Modellentwicklungsprozess und qualitativer Vergleich

3. Der digitale Zwilling des THT Lötprozesses

3.1 Hybride Modellierung – chnell, einfach und genau

Die Lösung liegt schlussendlich in einem hybriden Ansatz, der die Stärken verschiedener Methoden kombiniert und so deren Schwächen eliminiert. Durch die Kombination von Datenverarbeitung, Simulation und maschinellem Lernen auf Basis umfangreicher experimenteller Daten entstand ein hybrider, physics-informed ML-Modellierungsansatz, der sowohl die Geschwindigkeit als auch die Genauigkeit für industrielle Anwendungen bietet. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, das Modell um maschinen- oder materialspezifische Charakteristika zu ergänzen oder zu spezialisieren. Das erfordert bei der reinen numerischen Simulation erheblich mehr Aufwand.

Prozessbasierte DfM Risiko-Assessments und vollständige Lötprogramme in Sekunden

Somit kann der hybride Modellierungsansatz als digitaler Zwilling des THT-Lötprozesses gesehen werden, der den Anwender tatkräftig als Copilot-Assistenzsystem unterstützt. Anhand der Berechnungsergebnisse wird die Lötbarkeit jeder einzelnen Lötstelle innerhalb von Sekunden bewertet, wie in Abbildung 4 dargestellt. Darauf basierend können dann innerhalb von Sekunden bis Minuten Lötprozessparameter vorgeschlagen, Szenarien iteriert und anschließend in ein Lötprogramm generiert werden. Anhand der berechneten Lötparameter kann dann geprüft werden, ob diese innerhalb des gewünschten Prozessfensters liegen. Tun sie das nicht, kann schlussgefolgert werden, dass die Baugruppe nicht ausreichend lötbar ist. Also ein spezieller, prozessbasierter THT-DfM Ansatz, der dem aktuellen Design-Guideline-Ansatz weit überlegen ist. Die Anwendung dieses Vorgehens ist somit im besten Fall für den ersten Designstand einer Baugruppe durchzuführen, um frühzeitig und kostengünstig Risiken zu erkennen und informierte Entscheidungen für den weiteren Verlauf des Entwicklungsprojekts zu treffen und teure Design-Reviews kurz vor Serienstart zu vermeiden.

Abb. 4: Individuelle Risikobewertung für jede einzelne THT-Lötstelle zur quantitativen und objektiven Bewertung der Lötbarkeit und deren Risiken für Qualität und TaktzeitenAbb. 4: Individuelle Risikobewertung für jede einzelne THT-Lötstelle zur quantitativen und objektiven Bewertung der Lötbarkeit und deren Risiken für Qualität und Taktzeiten

Der „Energieausweis“ der THT-Lötstelle – Kommunikationsgrundlage im Design, in der Fertigung und Kostenkalkulation

Die hohe Arbeitsteiligkeit in der Elektronikfertigung führt dazu, dass für eine eindeutige Kommunikation etwa zwischen Entwickler und Fertiger eine gemeinsame Kommunikationsgrundlage nötig ist. Häufig geht es darum, einen Kompromiss zwischen Ergebnissen der Stromtragfähigkeitssimulation und Lötbarkeit zu finden. Die Stromtragfähigkeit in den Kupferlagen ohne ausreichenden Lotdurchstieg wegen schlechter Lötbarkeit ist jedoch auch nichts Wert, da dann die hohen Ströme nur durch die feinen Kupferhülsen transportiert werden, weil das Lot im Spalt fehlt.

Im Gegensatz zur Stromtragfähigkeit konnte die Lötbarkeit aber bis dato nicht richtig quantifiziert werden. Ähnlich einem Energieausweis bei Häusern, können Lötstellen nun anhand ihres Lötwärmebedarfs verglichen und Maßnahmen abgeleitet werden.Die Bewertung der Lötbarkeit anhand der errechneten Lötkontaktzeit in Sekunden auszudrücken, hilft dabei in der Kommunikation zwischen den Disziplinen, um Risiken sichtbar zu machen. Daraus können dann klare Empfehlungen für Designänderungen, die Auswahl des Lötverfahrens, die Konstruktion von Lötrahmen und die Entwicklung von Lötprogrammen abgeleitet werden. Zudem können die realen Kosten und Taktzeiten der Lötung deutlich besser erfasst werden als mit einer groben Pauschalrechnung in Zeit oder Kosten-pro-Lötstelle.

3.2 Validierung in der industriellen Praxis

Die industrielle Tauglichkeit der entwickelten Lösung wurde in mehreren umfangreichen Anwenderstudien validiert. In einer High-Mix-Produktionsumgebung konnte das digitale Zwillingsmodell seine Praxistauglichkeit unter Beweis stellen. „Durch den Einsatz des digitalen Zwillings unseres THT-Lötprozesses verbessern wir unsere DfM-Praktiken, reduzieren den Bedarf an zusätzlichen Designiterationen und verkürzen die Programmierzeiten in unserer High-Mix-Produktionsumgebung.“, so ein Kunde.

Die beispielhaften Ergebnisse in Abbildung 5 sprechen eine deutliche Sprache. Während Design Rules in der Designsituation A wegen mangelnder Zugänglichkeit Alarm schlagen ist in Fall B keine Auffälligkeit zu bemerken, da ausreichend Abstand zu umliegenden Bauteilen besteht. Demgegenüber spricht der berechnete Lötwärmebedarf eine andere Sprache.

Kritische THT-Lötstellen werden anhand des Leiterplattendesigns B unterscheidbar von gut lötbaren Lötstellen A identifiziert. Die Röntgenergebnisse spiegeln die äquivalenten Ergebnisse wider. Während Design A und der mittleren Lötstelle in Design B mit kurzen Kontaktzeiten sehr gut und stabil gelötet werden kann, ist der Wärmebedarf der äußeren Lötstellen in B signifikant höher und weist z. B. hier bei 6 Sekunden Lötkontaktzeit nur eine Teillotfüllung auf.

Damit können mit dem Einsatz in der Designphase fundiertere Entscheidungen gefällt und kostengünstig Änderungen vorgenommen werden. Somit kann die Lötbarkeit von Designs quantifizierbar bewertet, die Prozessentwicklungsdauer in einer variantenreichen Fertigung signifikant verkürzt, kostspielige Redesign-Zyklen vermieden und Time-to-Market-Zeiten verkürzt werden.

Abb. 5: Validierung anhand einer industriellen Baugruppe, Übereinstimmende Berechnungs- und Röntgenergebnisse für zwei beispielhafte Bauteile zeigen die Lötbarkeitsrisiken anhand der Designdaten [8]Abb. 5: Validierung anhand einer industriellen Baugruppe, Übereinstimmende Berechnungs- und Röntgenergebnisse für zwei beispielhafte Bauteile zeigen die Lötbarkeitsrisiken anhand der Designdaten [8]

4. Empfehlungen aus der Forschung zu THT-Risiken und versteckten
Kosten

4.1 THT-Risikoindikatoren

Besonders in der aktuellen Transformation zur Elektromobilität und erneuerbaren Energien, wo dickere Kupferlagen und thermisch massive Bauteile gefordert werden, zeigt sich der Wert einer präzisen THT-Lötbarkeitsbewertung. Ohne geeignete Bewertungstools bleiben Risiken unsichtbar und führen zu verdeckten Kostensteigerungen in der Produktentwicklung und der Fertigung – mit den bekannten kostspieligen Folgen für Designphasen, Fehlerkosten und Wettbewerbsfähigkeit.

Auf Grundlage der jahrelangen Forschungsarbeit und Validierung in der industriellen Praxis können folglich Kriterien definiert werden, ab wann klassische THT-Designregeln an ihre Grenzen stoßen und die Risiken zu kostspieligen Problemen führen.

Die Forschung zeigt, dass erhöhtes Risiko bei den in Tabelle 1 aufgezeigen Kriterien besteht:

 Tab. 1: Risiko Baugruppencharakteristika
Besonders dicke Leiterplatten >1,6 mm, dicke Kupferlagen >35μm und viele Kupferlagen (>4 Layer) → Erhöhter Wärmebedarf, Risiko für unzureichende Durchwärmung
Erstproduktion oder Lötprobleme in früheren Serien / Prototypen (z. B. unzureichender Lotdurchstieg, Nacharbeit) → Idealer Anlass, um die Ursache mit Simulation und Analyse fundiert zu identifizieren → Risikoabschätzung vor SOP
→ robustes Design & Prozessfenster notwendig
Taktzeitkritikalität und viele Bauteile >10 → Optimale Lötzeit für jede individuelle Lötstelle berechnen → Kein Verschwenden von Lötzeit
Kundenanforderungen nach hoher Qualität / Lebensdauer / IPC Class 3 Anforderungen → Höhere Qualitätsanforderungen → frühzeitige Absicherung der Lötqualität notwendig
Große THT-Pins oder massive Bauteile (Elkos, Shunts, Spulen, ...) → Hoher Wärmebedarf der Lötstelle
Thermisch empfindliche Bauteile (Folienkondensatoren) → Risiko thermischer Schädigung bei begrenzter Wärmebeständigkeit der Bauteile bei zu hohem Wärmebedarf seitens der Leiterplatte
THT-Lötstellen befinden sich nahe an Rahmenausschnitten → Abschattung durch Trägerstruktur oder reduzierte Lotzugänglichkeit möglich
Kleine Öffnungen im Werkstückträger oder enges SMT Packaging → Geringe Wärmeeinwirkung durch Vorheizung und Lotwelle, Risiko für unzureichenden Wärmeeintrag

 

 Tab. 2: Prozess- und Qualitätskosten
Überdimensionierte Lötzeiten aus Sicherheitsgründen → Taktzeit-Verluste
Manuelle Nacharbeit bei grenzwertigen Lötstellen → Personalkosten
Mehrfache Testläufe bei neuen Baugruppen → Materialverschwendung
Prozessstreuung durch suboptimale Designs → Ausschuss

 

 Tab. 3: Entwicklungskosten
Zusätzliche Designiterationen bei unklaren Lötbarkeits-Grenzen → Zeitverluste
Verspätete Markteinführung durch verlängerte Entwicklungszyklen → Opportunitätskosten

 

4.2 Versteckte Kosten erkennen

Selbst wenn aktuelle THT-Baugruppen ‚funktionieren', bestehen oft versteckte Kosten, die erst bei genauer Betrachtung sichtbar werden. Die Forschungsergebnisse zeigen eindeutig: Je größer und komplexer die THT-Baugruppen werden, desto größer ist das Optimierungspotential, dass durch eine fundierte Lötbarkeits-Bewertung erreicht werden kann. Damit ergeben sich durch den modellbasierten Einblick in die THT-Lötbarkeit zahlreiche Vorteile:

  • Reduzierte Programmierzeit durch datenbasierte Parameterempfehlung
  • Weniger Design-Iterationen durch früh identifizierte Risiken
  • Erhöhte Prozessrobustheit reduziert Qualitätsschwankungen
  • Geringere Fehlerrate in der Serienfertigung
  • Optimierte Taktzeiten ohne Sicherheitsaufschläge
  • Reduzierte thermische Belastung empfindlicher Bauteile

Damit kann konstatiert werden, dass regelbasierte THT-DfM Checks mit den neuen State-of-the-Art Möglichkeiten ergänzt werden müssen, da sonst quasi wissentlich und unnötig versteckte Kosten und Risiken in kauf genommen werden.

4.3 Von der Forschung zum digitalen Zwilling, einem ‚Solder-Copilot'

Der Weg von sieben Jahren universitärer Grundlagenforschung zur industriell einsetzbaren Software verdeutlicht das Potenzial wissenschaftlicher Innovation für die industrielle Praxis [2]. Die systematische Entwicklung und Validierung verschiedener Modellierungsansätze mündete in der Gründung von DEEPTRONICS, einem Start-Up, das die Grundlagenforschung in industriellen Mehrwert überführt. Die Software adressiert zwei entscheidende Einsatzgebiete in der Elektronikfertigung. Im Bereich Design for Manufacturing ermöglicht sie die frühzeitige Erkennung von Risiken bereits in der Designphase, beschleunigt Time-to-Market-Prozesse und sichert die Wettbewerbsfähigkeit durch reduzierte Entwicklungszyklen. In der Prozessentwicklung wird so die THT-Lötprogrammgenerierung automatisiert und reduziert damit manuelle Trial-and-Error-Verfahren und optimiert die Prozessparameter datenbasiert.

Literatur

[1] Seidel R., Ockel M., Franke J., Kästle C.: Impact of THT-hole dimensioning on manufacturability in selective wave soldering. In: Microelectronics Reliability 137 (2022), p. 114773. DOI: 10.1016/j.microrel.2022.114773 (Abruf: 1.7.2025).
[2] Seidel R.: Modellbasierte Optimierung des Selektivwellenlötprozesses, FAU University Press (2023), DOI: 10.25593/978-3-96147-652-7 (Abruf: 1.7.2025).
[3] Seidel R., Ahrens T., Friedrich J., Reinhardt A., Franke J.: Experimental identification and prioritization of design and process parameters on hole fill in mini wave soldering. In: Microelectronics Reliability 131 (2022), p. 114497. DOI: 10.1016/j.microrel.2022.114497 (Abruf: 1.7.2025).
[4] Seidel R., Sippel M., Franke J.: An Analytical Approach to Thermal Design for Manufacturing in Mini Wave Soldering. IEEE 71st Electronic Components and Technology Conference (ECTC). DOI: 10.1109/ECTC32696.2021.00228 (Abruf: 1.7.2025).
[5] Seidel R., Sippel M., Franke J.: 2-D Fluid Simulation Approach for Miniwave Soldering. DOI: 10.1109/ECTC51906.2022.00281 (Abruf: 1.7.2025).
[6] Seidel R., Schmidt K., Thielen N., Franke J.: Trustworthiness of machine learning models in manufacturing applications using the example of electronics manufacturing processes. 55th CIRP Conference on Manufacturing Systems, CIRP CMS 2022. DOI: 10.1016/j.procir.2022.05.013 (Abruf: 1.7.2025).
[7] Seidel R., Ockel M., Franke J., Kästle C.: Impact of THT-hole dimensioning on manufacturability in selective wave soldering. In: Microelectronics Reliability 137 (2022), p. 114773. DOI: 10.1016/j.microrel.2022.114773 (Abruf: 1.7.2025).
[8] DEEPTRONICS Blog: Detect critical THT solder joints immediately; https://deeptronics.io/detect-critical-tht-solder-joints-immediately/

plus 2025 07 094Dr.-Ing. Reinhardt Seidel
Geschäftsführer DEEPTRONICS GmbH
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www.deeptronics.io

  • Ausgabe: Juli
  • Jahr: 2025
  • Autoren: Dr.-Ing. Reinhardt Seidel, DEEPTRONICS GmbH
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