Das wahre Shenzhen – Einblicke in die Metropole im Süden Chinas

Shenzhen Pingshan-Distrikt

Shenzhen ist berühmt für seinen rasenden Wandel von einem chinesischen Fischerdorf zu einer Metropole seit Ende der 1970er-Jahre. Für die Elektronikindustrie steht der Name Shenzhen für einen wichtigen Handelspartner und Mitbewerber. Doch wenige kennen das Leben jenseits der Glitzerfassade dieser Millionenstadt.

Auf einer allgemeinen Landkarte von China erscheinen meistens nur drei Städte: Beijing, Shanghai, und die Sonderverwaltungszone Hongkong. Ohne diesen Sonderstatus würde das von 7,5 Mio. Menschen bewohnte Stadt Hongkong von der nur durch den Shenzhen-Fluß abgegrenzten Metropole Shenzhen ersetzt werden, die ganze 18 Mio. Einwohner besiedeln. Natürlich hat Hongkong eine lange Geschichte, einschließlich der 156 Jahre währenden britischen Kolonialherrschaft. Die Rückgabe der Kronkolonie an China erfolgte am 30. Juni 1997 mit ihrem Status als Sonderverwaltungszone für 50 Jahre.

Shenzhen dagegen ist in seiner heutigen Form erst 45 Jahre alt. Als China 1978 seine Politik der Reformen und der Öffnung nach außen einleitete, wurde das an Hongkong grenzende Shenzhen 1980 zur ersten Sonderwirtschaftszone 深圳经济特区 des Landes mit hervorragenden Bedingungen für Investoren erklärt. Ausländische Firmen konnten in Shenzhen investieren, und lokalen Unternehmen war es nun gestattet, mit dem Ausland Geschäfte zu machen. Anfänglich waren es meist Firmen mit Sitz in Hongkong oder Taipeh, die die Gelegenheit, mit wesentlich billigeren Arbeitskräften herstellen zu können, in Anspruch nahmen. Zu jenem Zeitpunkt bestand die Sonderwirtschaftszone Shenzhen aus einer Anhäufung von Fischerdörfern, deren Wohnsitz-Melderegister 户口 80.000 Einwohner umfasste. Die tatsächliche Einwohnerzahl lag aufgrund der vielen Wanderarbeiter für den Häuser- und Fabrikenboom wesentlich höher, doch aufgrund des komplizierten chinesischen Einwohnermeldegesetzes blieben diese in ihren Heimatdörfern und -städten gemeldet.

Shenzhen

Der Beginn von Chinas Leiterplattenindustrie

In den 1980er-Jahren entwickelte sich die Leiterplattenindustrie in Europa und in den USA. Und so dauerte es nicht allzu lange, bis auch in Hongkong Leiterplatten hergestellt wurden. Innerhalb mehrerer Jahre wurden dann auch in Shenzhen Leiterplattenfirmen gegründet, deren Zentralen und Vertriebszentren zumeist in Hongkong lagen. Genau wie in der westlichen Welt blieb es auch in China nicht nur bei der Herstellung von doppelseitig durchkontaktierten FR4-Leiterplatten. Die Lagenzahl der Multilayer erreichte acht innerhalb kürzester Zeit. Bedingt durch die großen westlichen Telekom-OEMs hielten auch Leiterplatten aus Sondermaterialien wie PTFE/Glas Einzug. Ich entsinne mich noch an meine ersten Geschäftsreisen für Taconic nach China in den Jahren 2004 und 2005. Mit in Shenzhen ansässigen Leiterplattenfirmen wie Shennan Circuits (SCC) oder Yan Tat diskutierten wir die Verarbeitung von PTFE/Glas-Basismaterial. 20 Jahre später stellen beide Firmen nach wie vor Leiterplatten her, und SCC hat sich sogar zu einem der weltweit größten Hersteller entwickelt – mit Werken auch in anderen Teilen Chinas.

Synonym mit Shenzhen sind chinesische Großunternehmen der Elektronik-, Telekommunikations- und Automobilindustrie. 2023 wurden acht Firmen mit Sitz in Shenzhen im FORTUNE-Magazin als größte Unternehmen des Landes in der Liste ‚2023 Fortune China 500' aufgeführt.[*] Viele dieser Firmen sind außerhalb Chinas nahezu unbekannt:

  • Ping An (Rang 9)
  • Huawei (Rang 33)
  • Amer (Rang 38)
  • Tencent (Rang 45)
  • Vanke (Rang 56)
  • China Merchants Bank (Rang 58)
  • BYD (Rang 66)
  • China Electronics Corp. (Rang 74)

Insgesamt sind in diesem Bericht 37 Firmen aus Shenzhen aufgeführt, u. a. ZTE und DJI.

Nicht zu vergessen ist Foxconn, weltweit der größte Contract Engineering Manager CEM, mit weit über 100.000 Beschäftigten in Shenzhen. Einer seiner Großkunden ist Apple.

Shenzhen ist zwischenzeitlich zu einem weltweit führenden Technologiezentrum geworden, das manchmal auch als Chinas Silicon Valley bezeichnet wird. Gestützt durch den Status der Sonderwirtschaftszone werden Entrepreneure gefördert, was zu einem Boom an kleinen und mittelständischen Technologiefirmen geführt hat. In der mit einer Bevölkerung von ca. 93 Mio. Einwohnern geschaffenen Greater Bay Area 大亚湾 -Wirtschaftszone im Perlflussdelta ist Shenzhen außerdem das Zentrum für Logistik und Finanzdienstleistungen.

Das 392,5 m hohe China Huarun Building, auch China Resources Tower genannt; in der Umgangssprache aufgrund seiner Form als Frühlingsbambus bezeichnet. Daneben befindet sich das 246 m hohe Andaz Shenzhen Bay HotelDas 392,5 m hohe China Huarun Building, auch China Resources Tower genannt; in der Umgangssprache aufgrund seiner Form als Frühlingsbambus bezeichnet. Daneben befindet sich das 246 m hohe Andaz Shenzhen Bay Hotel

Entlang der zahllosen Großbaustellen fahren Wassersprühwagen regelmäßig vorbei, um den Staub aus der Luft zu bindenEntlang der zahllosen Großbaustellen fahren Wassersprühwagen regelmäßig vorbei, um den Staub aus der Luft zu binden

Shenzens Infrastruktur

Natürlich gehörte auch ein Ausbau der Infrastruktur zur Entwicklung von Shenzhen. Für Hochgeschwindigkeitszüge wurde deswegen eigens der Nordbahnhof Shenzen 深圳北站 gebaut. Shenzhen hat heute Chinas viertgrößtes Metrosystem. GangxiaBei ist Shenzhens größter Metrobahnhof, in dem vier Metrolinien zusammentreffen. Die Architektur mit dem Kuppeldach gewann mehrere Preise. Bargeldlose Zahlung mit Mobiltelefon-Apps wie WeChat 微信 ist heute normal für nahezu alle finanziellen Transaktionen in China. Weiterhin wird Gesichtserkennung immer häufiger auch zur Zugangsberechtigung und gleichzeitigen Bezahlung in Metrobahnhöfen eingesetzt. Seit zwei Jahren sind alle 24.000 Taxis in Shenzhen Elektroautos von BYD, dem örtlichen Pkw-und Bus-Hersteller. Seit 2017 wird die gesamte, heute 20.000 Busse umfassende Stadtverkehrsflotte elektrisch betrieben, wobei unter diesen Fahrzeugen BYD einen Anteil von ca. 80 % hat. Im Sommer 2023 hat Shenzhen auch autonome Taxis auf den Straßen des Pingshan-Distrikts freigegeben, und seit Frühjahr 2024 auch im Nanshan-Distrikt. Es ist ein unglaubliches Gefühl, in einem solchen fahrerlosen Taxi zu fahren. Das Taxi wird über eine App bestellt, und die Tür entriegelt sich nach Eingabe der letzten vier Ziffern der Mobiltelefonnummer – über die in WeChat gleich die Taxigebühr abgebucht wird. Nach Drücken der Lostaste auf dem Bildschirm in der Nackenstütze und Anlegen des Sicherheitsgurtes setzt sich das Taxi dann in Bewegung. Nach Erreichen der vorgegebenen Adresse hält das Taxi, und die Tür wird entriegelt. Es ist auf jeden Fall abenteuerlich, diese Taxis ohne irgendwelche Fahrer oder Passagiere durch die Straßen fahren zu sehen, wenn das Taxi auf dem Weg zu einem Passagier ist. Shenzhen war die erste Stadt Chinas mit flächendeckendem 5G-Mobilfunksystem – natürlich von ansässigen Firmen wie Huawei und ZTE. Zusammen mit Künstlicher Intelligenz (KI) und dem Internet of Things (IoT) wird die Stadtverwaltung immer weiter ausgebaut zur Verbesserung der Lebensqualität seiner Einwohner.

Manfred Huschka im GangxiaBei 岗厦北地铁站 MetrobahnhofManfred Huschka im GangxiaBei 岗厦北地铁站 Metrobahnhof

Gesichtserkennung als eine der drei Bezahlungsmöglichkeiten für die MetroGesichtserkennung als eine der drei Bezahlungsmöglichkeiten für die Metro

Taxis in ShenzhenTaxis in Shenzhen

Autonomes Taxi auf seiner Fahrt durch ShenzhenAutonomes Taxi auf seiner Fahrt durch Shenzhen

Das wahre Shenzhen

Außerhalb des Central Business Districts (CBD) sieht das Leben anders aus: Der Lotusblüten-Park 莲花山公园 ist der Stadtpark von Shenzhen. Der Park liegt am nördlichen Ende des Futian Central Business Districts und erstreckt sich über eine Fläche von 150 ha (ca. 210 Fußballfelder) und ist halb so groß wie der Central Park in New York. Auf dem 106 m hohen Lotus-Hügel des Parks wurde eine sechs Meter große Bronzestatue von Deng Xiaoping 邓小平 zu dessen Ehren errichtet. Deng Xiaoping war in den 1980er-Jahren maßgeblich für die wirtschaftliche Öffnung Chinas verantwortlich und damit für den Wirtschaftsaufschwung des Landes. Obwohl sich die meisten Chinesen als Atheisten bezeichnen, erfahren die Buddhisten-Tempel eine immer größere Besucherzahl, und zunehmend von jungen Leuten. Der HongFa-Tempel 弘法寺 wurde in den 80er-Jahren als größter Tempel in der neuen Stadt Shenzhen errichtet, und kurz vor COVID wurde eine großangelegte Erweiterung eingeweiht.

HongFa-Tempel 弘法寺HongFa-Tempel 弘法寺

Das kulinarische Shenzhen

Wenn Chinesen essen gehen, wird meistens ein Lokal einer Regionalküche gewählt. Während man im deutschsprachigen Raum zum Italiener, Griechen oder Chinesen geht, geht man in China in ein Restaurant der Provinz Sichuan, Hubei, Guangdong usw.

Essen ist mehr oder weniger die Lebensphilosophie der Chinesen. Das spiegelt sich auch im Gruß unter Freunden und Kollegen wider: 你吃了吗? Hast Du schon gegessen?

Aus diesem Grunde säumen auch Imbiss-Restaurants und Garküchen dieser Art die Geschäftsstraßen, und meistens sind die Speisen zum Mitnehmen fürs Büro. In Nebenstraßen wird es oft mit der Hygiene nicht wie in Deutschland gehalten, jedoch kann man sich an alles gewöhnen. Es zeigt sich hier, dass China trotz aller Errungenschaften und technologischen Neuigkeiten doch noch ein Entwicklungsland ist. Hunan ist eine Provinz in Zentralchina, berühmt für sehr scharfe Gerichte – mit höherem Chili-Gehalt als sogar Sichuan-Gerichte. Natürlich muß mit Stäbchen gegessen werden. Reis wird entweder jedem Gast in einer kleinen Schale zu Anfang gereicht oder gegen Ende hin in einem kleinen Reiskocher für die gesamte Tischgesellschaft. Die kleinen roten Chili-Schoten werden mit dem Ess-Stäbchen zur Seite geschoben, da sie lediglich zum Würzen dienen. Diese Chilis benötigen mindestens 3 Wochen bis zur Ernte und sind daher sehr, sehr scharf.

Gedeckter Tisch eines Hunan-RestaurantsGedeckter Tisch eines Hunan-Restaurants

Frischeres Geflügel als in solchen Fleisch- und Geflügelgeschäften gibt es nicht: Die Hühner werden vor den Augen der Käufer geschlachtet und zu Hause gleich zubereitetFrischeres Geflügel als in solchen Fleisch- und Geflügelgeschäften gibt es nicht: Die Hühner werden vor den Augen der Käufer geschlachtet und zu Hause gleich zubereitet

Shenzhens Bevölkerung

Shenzhen weist mit einer Altersstruktur von durchschnittlich 33 Jahren die innerhalb Chinas mit großem Abstand jüngste Bevölkerung auf, was auf das knapp 45-jährige Bestehen dieser Metropole zurückzuführen ist. Nahezu alle Einwohner kommen aus sämtlichen Landesteilen von China. Jeder kann sich die Schwierigkeiten eines Oberbayern vorstellen, der mit einem Ostfriesen kommunizieren will. Da China eine Bevölkerung von 1,4 Mrd. Menschen aufweist, ist es verständlich, dass es ca. 80 Sprachen und weit über 200 Regionaldialekte gibt. Die Verständigung erfolgt im sog. Hochchinesisch bzw. Mandarin 普通话, welches ca. 70 % aller Chinesen, d. h. ca. 1 Mrd. Einwohner, sprechen. Dies hebt Shenzhen von anderen Großstädten ab, wie z. B. Guangzhou oder Shanghai, in denen sich aufgrund der langen Geschichte dieser Städte die Einwohner auf Kantonesisch bzw. im Shanghaidialekt unterhalten. Bleibt noch die Verständigung mit den Nichtchinesen. Zwar muss jedes chinesische Kind bereits seit einigen Jahren im Grundschulalter Englisch lernen, doch ist der Prozentsatz jener, die nach dem Ende der Schulzeit tatsächlich ein richtiges Gespräch auf Englisch führen können, sehr gering. Ich selber fühle mich in Shenzhen wohl, auch da ich weiß, dass ich nicht der Einzige bin, der Mandarin lernen musste. Mir sind jedoch meine Grenzen bekannt, wie ich es z. B. letztes Jahr bei der Gründung meiner Management-Consulting-Firma in Shenzhen erlebt habe. Jedoch ist jeder hier bereit, einem Nichtchinesen doppelt und teilweise auch dreifach etwas zu erklären. Denn die Bereitschaft, chinesisch sprechen zu wollen, wird anerkannt.

Shenzhen und die Leiterplatte

Wie sieht es heute mit Leiterplattenfirmen in Shenzhen aus? Umweltschutzauflagen beinhalten strikte Emissionsgesetze und auch deren Einhaltung – im Unterschied zur Vergangenheit. Aus diesem Grunde sind Leiterplattenwerke heute nur noch in den Randbezirken der Metropole zu finden. Sehr viele Leiterplattenhersteller haben jedoch nach wie vor ihre Verkaufsbüros in Shenzhen. Eine große Anzahl dieser Hersteller sind außerhalb Chinas unbekannt, da sie entweder lediglich für den chinesischen Binnenmarkt fertigen oder über europäische Distributoren oder Leiterplattenhersteller nach Europa liefern.

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Referenzen

[*] www.fortunechina.com/fortune500/c/2023-07/25/content_436290.htm (Abruf: 24. Juli 2024).
[**] www.fs-pcba.com/de/ (Abruf: 30. Juli 2024).

Quellen

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/305187/zur-geschichte-hongkongs/ (Abruf: 24. Juli 2024).
https://www.fr.de/politik/shenzhen-china-geschichte-wirtschaft-politik-91998993.html (Abruf: 24. Juli 2024).

  • Titelbild: Shenzhen Pingshan-Distrikt
  • Ausgabe: November
  • Jahr: 2024
  • Autoren: Manfred Huschka, Manfred Huschka Management Consulting (Shenzhen) Ltd.
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