Nüchtern betrachtet ist eine Leiterplatte selbst im voll bestückten Zustand lediglich ein technisches Gerät oder gar Hilfsmittel. Ein Mittel zum Zweck. Doch dank Elektronik und der darauf aufbauenden binären Welt entstehen im besten Fall Erinnerungen und positive Gefühle.
Während Technik aus den späten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nostalgische Gefühle weckt, gelingt dies aktueller Hardware oft nicht. In der Ära von Industrie 5.0 soll jedoch die Verbindung zwischen Mensch und Maschine gestärkt werden, sodass auch moderne Technologie wieder emotionale Bindungen schaffen könnte.
„Wie viele Programmierer braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln? Keinen. Es ist ein Hardwareproblem.“ Dieser alte Witz zeigt eine Wahrheit: Softwareentwickler kümmern sich heute kaum um Hardware. Sie tippen das, was sie als Ergebnis haben wollen, in eine Entwicklungsumgebung, und die Software spuckt ein Resultat aus. Die Details der Computerkomponenten sind oft irrelevant. Die IDE exportiert auf Knopfdruck für Windows, MacOS, Linux, Smartphones oder Webanwendungen – es unterscheiden sich im Wesentlichen nur Auflösungen und das Userinterface. Platinen und Chips sind – aus Entwicklersicht – weitestgehend belanglos.
Doch das war nicht immer so. Als Kind der 1980er und 90er trug ich in jungen Jahren gar eine aus einem Taschenrechner stammende Leiterplatte als Kettenanhänger. Damals hatte die Hardware eine Seele. Mein erster PC, ein 80286er, der C64, Amiga, Atari ST, Game Boy und Game Gear – diese Geräte wecken bei mir nostalgische Gefühle. Eine lebendige Retro-Szene pflegt sie und die damit verbundenen Erinnerungen.
Besonders beeindruckend war der Amiga 1000, der bei seiner Veröffentlichung 1985 nur ‚Amiga' hieß [1]. Er war seiner Zeit voraus: eine 16-Bit-Architektur mit einem 32-Bit-Betriebssystem, erdacht und maßgeblich entwickelt von Jay Miner. Das Gehäuse trug die Unterschriften der Erschaffer und den Pfotenabdruck von Miners Hund Mitchy auf der Innenseite. Diese Verbindung zwischen Entwicklern und Konsumenten machte den Amiga – neben dem genialen Hardwaredesign – einzigartig.
Computer dieser Zeit waren individueller. Das Betriebssystem, soweit vorhanden, war keinen gängigen Standards unterworfen. Die Geräte hatten eine exzeptionelle Schönheit, Haptik und sogar Düfte, die heutzutage vom sich erwärmenden Staub auf der Elektronik dominiert werden. Verbunden mit dem Systemstart und den Geräuschen der Diskettenlaufwerke sprachen sie alle Sinne an. Über diese Maschinen und deren Entwickler wurden Bücher geschrieben und Dokumentarfilme gedreht. Man verstand die Ideen und Konzepte dahinter, insbesondere, wenn man in Assembler für diese Systeme programmierte. Ken Williams, Gründer der legendären Firma Sierra On-Line, brachte es 2021 in einem Interview auf den Punkt: „Die frühen Computer, bei denen es kein störendes Betriebssystem gab, haben extrem viel Spaß gemacht.“ [2]
Heutzutage habe ich einen großen PC, einen Windows-Laptop und einen Mini-PC. Doch ich habe keine Ahnung, wer für die Hardware verantwortlich ist. Es ist nicht entscheidend, selbst bei meinem Android-Smartphone nicht. Für die Bauteile interessieren sich fast nur Gamer, die sich alle paar Jahre neue Geräte kaufen, damit die aktuellsten Spiele flüssig laufen. Gute Programmierer der Amiga-Ära kannten jeden Trick, um das Maximum aus den damaligen Computern herauszuholen – und die Menschen wussten dies zu schätzen. In den 1970er und 80er Jahren gab es zur Hardware zusätzlich Handbücher, die meist von den Entwicklern selbst geschrieben wurden. Mittels Schaltplänen wurde alles beschrieben. Heute gibt es höchstens eine Kurzanleitung, in welcher erklärt wird, wie man das Gerät auspackt und einschaltet.
Verbindung zwischen Mensch und Technik
Mit der Einführung von Industrie 5.0 könnte sich dieses Verhältnis wieder ändern. Industrie 5.0, von der Europäischen Kommission entwickelt, fördert industrielle Aktivitäten, die über Produktivität und Effizienz hinausgehen. Ziel ist es, das menschliche Wohlergehen, Nachhaltigkeit und Resilienz in den Vordergrund zu stellen. Dabei spielt die Verbindung zwischen Mensch und Technik eine zentrale Rolle. Wie das konkret aussehen soll, steht aber weitestgehend in den Sternen.
Ein entscheidendes Merkmal von Industrie 5.0 ist die Betonung der Langlebigkeit und Zukunftsfähigkeit von Produkten. Während ein C64 selbst nach 40 Jahren funktioniert, oder sich vergleichsweise einfach reparieren lässt, sieht die Realität bei aktueller Hardware oft anders aus [3]. Moderne Geräte haben häufig eine kürzere Lebensdauer und sind bei Problemen kaum wiederzubeleben. Industrie 5.0 setzt hier an, indem sie die Entwicklung von langlebiger, reparierbarer und nachhaltige Elektronik fördert [4] [5]. Dies könnte dazu führen, dass zukünftige Geräte wieder eine ähnliche emotionale Bindung erzeugen wie die Klassiker der Vergangenheit. Die Idee dahinter sollte auch Hardwareentwickler begeistern. Welch ein erhabenes Gefühl muss es für die Leiterplattendesigner sein, wenn sie miterleben, dass ihre Arbeit Jahrzehnte später Menschen begeistert? Womöglich fühlt man sich dabei ein wenig wie die Entwickler der Voyager-Sonden.
Leiterplatten sind mehr als bloße Hilfsmittel
In der Industrieansicht haben die sogenannten Retro-Systeme ihren Zweck längst erfüllt und sollten in den kommenden Hardwaregenerationen aufgegangen und in Vergessenheit geraten sein [6]. Die Anhänger dieser Computer sehen das anders. Für sie besitzt die Hardware eine einzigartige Ästhetik und einen besonderen Wert, der über ihre Rolle in der Computerevolution hinausgeht.
In der Ära von Industrie 5.0 sollten Leiterplatten wieder mehr als nur technische Hilfsmittel sein. Sie könnten emotionale Brücken zwischen Entwicklern und Nutzern schlagen. Nachhaltige und menschenzentrierte Ansätze würden dazu führen, dass Hardware wieder mehr Bedeutung erhält. Geräte, die mit Bedacht und Rücksicht auf den Nutzer und die Umwelt entwickelt werden, haben das Potenzial, funktional und emotional wertvoll zu sein.
Industrie 5.0 fördert eine Symbiose zwischen Mensch und Maschine, bei der Technologie nicht nur als Werkzeug, sondern wie Partner gesehen wird. Diese Vision umfasst die technische und emotionale Ebene. Die Langlebigkeit von Hardware schafft Vertrauen und Beständigkeit. Wenn ein Gerät über Jahrzehnte hinweg zuverlässig funktioniert, entsteht eine besondere Beziehung zwischen dem Nutzer und der Maschine.
Wenn die Elektronik, die wir täglich benutzen, nicht nur funktional, sondern auch langlebig ist, könnte sie wieder zu einem Teil unseres Lebens werden, der Erinnerungen und Emotionen weckt. So wird die Technik von heute zur Nostalgie von morgen, eingebettet in das menschliche Wohlbefinden und die Nachhaltigkeit, die Industrie 5.0 anstrebt. Wie dies konkret umgesetzt werden kann, bleibt jedoch abzuwarten.
Referenzen
[1] Mikrowelten – Geschichten der Computertechnik – Teil 9: Eine Freundin für den Geek; https://www.bytegame.de/2022/06/24/mikrowelten-geschichten-der-computertechnik-teil-9-eine-freundin-fuer-den-geek/
[2] The Rise of Sierra Online Wasn’t Exactly a Fairytale; https://www.wired.com/story/sierra-online-ken-williams-interview-memoir/
[3] Mikrowelten – Geschichten der Computertechnik – Teil 6: Computer für die Massen; https://www.bytegame.de/2022/03/25/mikrowelten-geschichten-der-computertechnik-teil-6-computer-fuer-die-massen/
[4] Industrie 5.0: menschlicher, nachhaltiger und widerstandsfähiger; https://www.mecalux.de/blog/industrie-5-0
[5] Von Industrie 4.0 zu Industrie 5.0 – Idee, Konzept und Wahrnehmung; https://link.springer.com/article/10.1365/s40702-023-01002-x
[6] Dokumentarfilm: Die Demoszene - Digitale Unendlichkeiten https://youtu.be/X8_NqsrnH70?si=jYbo2Vk5Y1HdkrFa