Viren sind eigentlich weder lebendig noch tot sondern irgendetwas an der Grenze zwischen diesen Bereichen. Sie leben erst, wenn sie eine Zelle infizieren und deren Maschinerie übernehmen, ansonsten sind sie nur Materie, kompliziert gebaut und hübsch anzusehen, die aber nicht lebt. Vor allem scheinen die Viren tot zu sein, die es geschafft haben, ihr Erbmaterial dem menschlichen Genom anzuvertrauen. Tatsächlich beherbergen die Zellen des Menschen in ihren Chromosomen beträchtliche Mengen an viralen Genen, wie man weiß, seit das humane Genom offenliegt. Ein französischer Molekularbiologe hat sich die vielen Gene von Viren im menschlichen Erbgut genauer angeschaut und sich dann daran gemacht, aus den genetischen Stücken ein ganzes Virusgenom zu basteln – erst im Computer, dann in einem Syntheseapparat, der das Erbmolekül des Virus herstellte. Das Unheimlich ereignete sich, als dieses angefertigte Genmaterial in eine Zelle eingeschleust wurde und anschließend anfing, sich zu vermehren. Mit anderen Worten, das Virus war aus seinen toten Stücken auferstanden, und eigentlich könnte man sich zu Ostern darüber freuen – oder kommen manchen Menschen dabei – im Gegenteil – eher mulmige Gedanken? Die Auferweckung des toten Virus zeigt vor allem, welches Lebenspotential im tiefen Inneren der menschlichen Zellen steckt und wie sehr die Existenz der Spezies Homo sapiens mit Viren verknüpft ist. Man dachte immer, die Menschen beherrschen die Natur. Jetzt merkt man, dass das Umgekehrte der Fall ist und die Natur vielmehr den Menschen beherrscht.
Im Gegenteil - Eine Auferstehung von den Toten
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- Ausgabe: Juni
- Jahr: 2020
- Autoren: Ernst Peter Fischer