Auf den Punkt gebracht: Das elektronische Lenksystem ‚Steer-by-Wire‘ geht in Serie

Abb. 1: Mercedes EQS ab 2026 mit Steer-by-Wire Lenkung

Mercedes und NIO/China sind am Start und ZF Friedrichshafen ist als Zulieferant mit dabei. Steer-by-Wire ist das Lenkungssystem der Zukunft, denn für autonomes Fahren ist die Technologie eine Grundvoraussetzung. Damit entsteht ein neues Marktsegment für Leiterplatten und elektronische Systeme.

In der Flugzeugtechnik war der 22. Februar 1987 ein Meilenstein. Mit dem Erstflug des Airbus A320 ging das System ‚Fly-by-Wire' in Serie. Eine dreifache Redundanz von Leitungen und Systemen hat schon damals für eine hohe Sicherheit gesorgt.

In der Automobilindustrie sind rund 40 Jahre vergangen, bevor jetzt ‚Steer- by-Wire' (SbW) in Serie geht. Bereits in der PLUS 8/2018 berichtete der Autor dieser Kolumne über die Entwicklung von Steer-by-Wire für zukünftige Pkws.

Abb. 2: Redundante Verbindungen zwischen dem neuartigen Yoke Lenkrad, den Sensoren und Aktoren sowie Steuergeräten für maximale SicherheitAbb. 2: Redundante Verbindungen zwischen dem neuartigen Yoke Lenkrad, den Sensoren und Aktoren sowie Steuergeräten für maximale Sicherheit

Im Gegensatz zur klassischen Lenkung, bei der eine mechanische Verbindung durch das Lenkgestänge und -getriebe besteht, nutzt SbW elektronische Sensoren, Aktuatoren und Steuergeräte. Das Lenkrad überträgt elektrische Signale an die Steuerungseinheit, die dann die Radlenkung bewegt.

Vorteile sind u. a.:

  • Reduktion des Lenkradgewichts (Lenkkraft) und -umfangs, jetzt Yoke Design
  • Verbesserte Raumgestaltung im Fahrzeuginneren
  • Erhöhte Flexibilität bei der Fahrzeugarchitektur
  • Integration in autonome Fahrsysteme

Die Funktionsweise von Steer-by-Wire im Detail: Abhängig von Fahrgeschwindigkeit und Fahrsituation gibt ein Aktuator am Lenkrad (Steering Feedback Unit; SFU) das Lenksignal des Fahrenden an das Lenkgetriebe (Steering Rack Unit; SRU) weiter, das die Räder lenkt. Die SFU erzeugt zudem das typische Lenkgefühl. Durch die mechanische Entkopplung von Lenkrad und Rädern entfällt die direkte Gegenkraft. Stattdessen wird der Reifen-Fahrbahn-Kontakt mithilfe der Rückstellkräfte der gelenkten Räder modellbasiert berechnet und entsprechend synthetisch erzeugt.

Zu den wichtigsten Unternehmen auf dem Markt für Steer-by-Wire-Systeme für Kraftfahrzeuge gehören:

  • Nissan Motor Company (Japan)
  • ZF Friedrichshafen (Deutschland)
  • JTEKT Corporation (Japan)
  • Thyssenkrupp (Deutschland)
  • Paravan (Deutschland)
  • Nexteer Automotive (USA)
  • Danfoss Power Solutions (USA)
  • SKF (Schweden)
  • LORD (USA)
  • Eaton (Irland)

Abb. 3: Wählbares Lenkgefühl, Lenkkraft (Lenkgewicht) und Direktheit, geringere Lenkbewegung durch neuartiges Yoke- Lenkrad linksAbb. 3: Wählbares Lenkgefühl, Lenkkraft (Lenkgewicht) und Direktheit, geringere Lenkbewegung durch neuartiges Yoke- Lenkrad links

NIO ET9 mit Steer-by-Wire-System von ZF ausgestattet

Als ein zentraler Bestandteil des ‚SkyRide'-Chassis von NIO, China wurde das Steer-by-Wire-System in enger Zusammenarbeit mit dem deutschen Technologiekonzern ZF entwickelt. Die Zusammenarbeit mit europäischen Zulieferern ist ein wichtiger Bestandteil der EU-Strategie von NIO.

Das System bietet eine vollständig digitale Lenkung, die sich mit autonomen Fahrfunktionen und Over-the-Air-Updates kontinuierlich erweitern lässt. Damit ist der NIO ET9 eines der ersten Serienfahrzeuge der Welt mit Steer-by-Wire und setzt einen neuen Standard für die nächste Generation von Elektrofahrzeugen.

Dazu kommt das ‚smarteste Chassis' der Welt. Technisch geht es dabei um vier hydraulische Stellelemente, die in den Stoßdämpfern integriert sind und mit 48-V-Technik binnen weniger ms über 20 cm Federweg ausgleichen können.

1000-mal pro Sekunde berechnen sie deshalb die Trimmlage neu und gleichen Unebenheiten aus. Dies soll 60-mal schneller als eine klassische Luftfederung funktionieren.

NIO setzt hier ein Advanced Intelligent Dynamic Control System (AIDC) ein.

Die digitale Architektur verwandelt den NIO ET9 über seinen Chassis Domain Controller (ICC) in ein Vehicle Motion Control (VMC)-System. Dies ermöglicht präzise Bewegungen in alle Richtungen - vorwärts, seitwärts und sogar vertikal. Mit fortschrittlichen Fahrdynamikmodellen passt der ET9 seine Leistung an die Fahrbedingungen in Echtzeit an, was zu einem verbesserten Fahrverhalten, höherer Stabilität und einem dynamischeren Fahrerlebnis führt.

Durch die Integration des Vehicle Motion Control Systems verwaltet das Advanced Intelligent Dynamic Control System folgende Systeme, u. a.

  • Steer-by-Wire (SbW) für eine präzise und reaktionsschnelle Lenkung
  • Hinterradlenkung (RWS) zur Verbesserung der Manövrierfähigkeit
  • Fully Active Suspension (FAS) für ein ruhigeres Fahrverhalten
  • Brake Control Unit (BCU) für intelligenteres, effizienteres Bremsen
  • Intelligente Drehmomentverteilung des Elektroantriebs für eine optimierte Kraftübertragung

Der NIO ET9 wurde im Rahmen des NIO Days 2024 offiziell gelauncht. Eine auf 999 Stück limitierte First Edition stand zunächst in China zum Verkauf, zu einem späteren Zeitpunkt wird der NIO ET9 auch in Europa erhältlich sein. Wie die anderen sechs Fahrzeugmodelle wurde er im Global Design Center in München entworfen.

Der NIO ET9 befindet sich noch in der Vorbereitungsphase für den Marktstart und ist in Deutschland und Europa derzeit noch nicht erhältlich.

Abb. 4: Nio ET9 mit Steer-by-Wire-System von ZF und Yoke-LenkradAbb. 4: Nio ET9 mit Steer-by-Wire-System von ZF und Yoke-Lenkrad

Der Blick zurück in 2018

Abb. 5: HELLA-Lenkwinkelsensor Torque and Angle Sensor der CIPOS-Technologie (Contactless Inductive Position Sensor)Abb. 5: HELLA-Lenkwinkelsensor Torque and Angle Sensor der CIPOS-Technologie (Contactless Inductive Position Sensor)HELLA zeigt bereits 2018 die neueste Generation der bekannten Lenkwinkelsensoren (TAS, Torque and Angle Sensor). Die Sensoren basieren auf der CIPOS (Contactless Inductive Position Sensor)-Technologie und messen Winkel und Geschwindigkeit der Positionsänderung des Lenkrads genau. Damit sind sie ein wichtiger Baustein auf dem Weg zum autonomen Fahren. Die Daten nutzen bereits Spurhalte-Assistenten, die das Auto teilautonom mit automatischen Lenkimpulsen in der Spur halten können. Daneben stellen sie die erforderliche Redundanz für komplexere autonome Fahrfunktionen sicher.

Auf den Punkt gebracht

  • Mercedes geht mit dem EQS mit Steer-by-Wire 2026 in Serie
  • NIO greift mit dem ET9 die Oberklasse an und hat 2024 bereits eine Vorserie von 999 Einheiten in China gelauncht, in der das von ZF Friedrichshafen Steer-by-Wire-System verbaut ist
  • Mit einer digitalen Fahrzeug-Architektur werden mehrere Funktionen verknüpft: Steer-by-Wire, Hinterradlenkung, elektronisches Federsystem, Brake-by-Wire und Drehmomentverteilung
  • Weil Steer-by-Wire weniger als eine Lenkumdrehung erfordert, wird mit dem Yoke Lenkrad nicht nur deutlich Platz gespart, sondern auch der Lenk-Komfort erhöht

Die gute Nachricht: Mit ZF ist einer der großen deutschen Zulieferanten auch in China mit am Ball. Hoffen wir, dass auch die deutschen Massen-Hersteller auf Augenhöhe mit den chinesischen Wettbewerbern bei diesem Technologiewechsel marktfähig werden.

Wünschen wir uns, dass die zarten Pflänzchen einer positiven Wirtschaftswende (Purchasing Manager Index PMI) weiterwachsen und Wurzeln schlagen.

Bleiben Sie uns gewogen
Ihr
Hans-Joachim Friedrichkeit

Kontakt

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

  • Titelbild: Abb. 1: Mercedes EQS ab 2026 mit Steer-by-Wire Lenkung
  • Ausgabe: Juni
  • Jahr: 2025
  • Autoren: Hans-Joachim Friedrichkeit
Image

Eugen G. Leuze Verlag GmbH & Co. KG
Karlstraße 4
88348 Bad Saulgau

Tel.: 07581 4801-0
Fax: 07581 4801-10
E-Mail: info@leuze-verlag.de

 

Melden Sie sich jetzt an unserem Newsletter an: