Im Gegenteil! Ein Kantpunkt als Standpunkt

Im Gegenteil! Ein Kantpunkt als Standpunkt

Die „Kritik der praktischen Vernunft“ des Aufklärers Immanuel Kant von 1788 enthält ein berühmtes Bekenntnis des Philosophen. Es lautet: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Wer dieses Zitat einsetzt, bricht es gewöhnlich hier ab, und die Frage bleibt offen, was Kant auf dem Herzen hatte und den Menschen sagen wollte. Beim Weiterlesen können sie dies erfahren und das Staunen lernen. Kant schreibt: „Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muss, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart.“

»Der bestirnte Himmel und das moralische Gesetz«

Kants Standpunkt gefällt durch den spannungsvollen Gegensatz zwischen (geometrischem) Punkt ohne Ausdehnung und (kosmischer) Unendlichkeit ohne Begrenzung. Das Geheimnis der Wirklichkeit ist so ein Wechselspiel zwischen punktuellem Nichts und unendlichem All, das auf eine Mitte zuläuft und dort auf den Menschen trifft.

Als die (enge) Physik im 20. Jahrhundert begann, sich zu einer Philosophie auszuweiten, gelang ihr dieser schwierige Schritt durch die Aufteilung sowohl des Lichts als auch der Materie in abgeschlossene Punkte (Partikel) und endlose Offenheit (Wellen). Vielleicht sollte die Biologie dasselbe versuchen und sich bemühen, das von Kant erwähnte Geheimnis der Lebenskraft mit der ihm sympathischen Idee der Komplementarität aus Punkt und Welt zu erfassen. Leben kann sowohl aus einem zarten Punkt entspringen (Goethes Faust), als auch unendlich ausgreifen, um mit seinem Reichtum an „der ganzen Sinneswelt“ teilhaben zu können (Kant). Die Welt ist voll von gegensätzlichen Möglichkeiten. Die Wissenschaft weiß das, seit sie den winzigen Punkt gefunden hat, aus dem die Energie quillt, mit der die ganze Welt werden und das All sich bilden kann. Gemeint ist das Quantum der Wirkung. Es ist fast nichts und ermöglicht doch alles. Ein Punkt, der den Menschen geschenkt worden ist und ihr Gemüt und die Welt erfüllt – in und über denKöpfen.

  • Ausgabe: November
  • Jahr: 2024
  • Autoren: Ernst Peter Fischer
Image

Eugen G. Leuze Verlag GmbH & Co. KG
Karlstraße 4
88348 Bad Saulgau

Tel.: 07581 4801-0
Fax: 07581 4801-10
E-Mail: info@leuze-verlag.de

 

Melden Sie sich jetzt an unserem Newsletter an: