In der Romantik blühten nicht nur Philosophie, Dichtung und Malerei, sondern auch die Naturwissenschaften. Obwohl Romantiker die Aufklärung als seelenlose Hinwendung zur Wissenschaft ablehnten, gelten Theodor Grotthuss (Artikel erscheint in der kommenden Ausgabe) und J. W. Ritter als eigentliche Begründer der elektrochemischen Theorie.
Mehr als 100 Jahre vor dem erstmaligen Erscheinen der „Galvanotechnik“ gab es in Deutschland schon einmal eine Schriftenreihe, die sich mit Galvanismus beschäftigte. Die Herausgabe einer solchen Zeitschrift war für einen gewissen Johann Wilhelm Ritter die einzige Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen. Aber von vorn.
Johann Wilhelm Ritter, ein spätes Bild. Es zeigt ihn in der Uniform der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, das Bild muss also nach 1805 in München entstanden seinWir schreiben das Jahr 1776. Anfang Dezember war es bitterkalt geworden im Örtchen Samitz in der Niederschlesischen Ebene. Bis tief ins neue Jahr hinein stieg das Thermometer nicht über -20 °C. Am 16. des Monats, abends um elf, bringt die 23-jährige Frau des örtlichen Pastors, Juliane Friederike Ritter, einen Buben zur Welt. Die Eltern geben ihm den Namen des Vaters, Johann Wilhelm. Die Sternenkonstellation ist nicht schlecht an jenem Dezembertag. Die Sonne steht im Zeichen des Schützen und tendiert zu Mars und Neptun. Der kleine Johann Wilhelm darf tiefe Einsichten, Begabung in Naturwissenschaften und Mathematik, vor allem aber geistige Freiheit in seinem Leben erwarten. Diese astrologische Komponente ist insofern erwähnenswert, da Ritter sich später durchaus für esoterische Themen wie Astrologie und Siderismus begeistern wird.
Der Vater hat eine geistliche Karriere für ihn vorgesehen, indes der Sohn interessiert sich dafür nicht und außerdem fehlt der Familie das Geld für ein Theologiestudium. Bis er 14 ist, besucht er die Lateinschule, dann absolviert er eine Lehre zum Apotheker. Während jener Zeit kommt er in Berührung mit den Schriften von Galvani und Volta. Er verschlingt sie gierig, weiß jetzt, dass das mit dem Apothekerberuf nicht unbedingt das ist, was er aus seinem Leben machen will. Zumal eine eigene Apotheke weitab der finanziellen Möglichkeiten der Familie liegt.
Ritter ist mittellos. Trotzdem verlässt er sein Elternhaus. Er wird es nie wieder sehen. Ein Freund der Familie schreibt später: „Die Eltern konnten ihm mit nichts als ihrem Segen bey seinem Eintritt in die Welt helfen.“ Und so schreibt er sich mit leeren Taschen am 27. April 1796, er ist fast 20, in Jena zum Studium der Naturwissenschaften ein (unter „Joan. Guilielm Ritter, Silesius“). Was er nicht ahnt: Da hat er schon die Hälfte seines Lebens hinter sich.
Einer seiner frühen Lehrer, den er sein Leben lang verehren würde, war der Jenaer Hofrat Professor Voigt. Bei ihm hört Ritter Physik und angewandte Mathematik. Zu jener fühlt er sich zwar hingezogen, findet aber keinen rechten Zugang. Herzog Ernst II bot Ritter ein Mathematik-Stipendium an, das der junge Student aber nicht wahrnimmt. Das kann man Ritter heute vorwerfen. Viele seiner Erkenntnisse bleiben deshalb auf dem Experiment basiert, ohne dass er sie auf die untrügliche Grundlage der Mathematik gestellt hätte. Viele seiner Experimente sind deshalb auch nicht reproduzierbar.
Sofort nach dem Beginn des Studiums fängt Ritter an, auf dem Gebiet des Galvanismus zu experimentieren. Es ist Voigt, der ihn dabei unterstützt, denn der Professor macht ebenfalls galvanische Versuche. Ritter darf die gesamte Laborausrüstung seines Lehrers nutzen. Er erwirbt sich schnell den Ruf, ein Experte auf diesem Gebiet zu sein. Schon ein Jahr später ist der preußische Bergassessor Alexander von Humboldt auf Ritter aufmerksam geworden. Er bittet ihn, sein Buch „Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermutungen über den chemischen Prozess des Lebens in der Tier- und Pflanzenwelt“ zu redigieren und zwar „mit kritischer Strenge und aufzuzeichnen, wo er gefehlet oder sich allzu einseitig ausgedrückt habe“. Ritter macht sich mit Feuereifer an die Arbeit.
Parallel dazu schreibt er an seinem eigenen Buch. Der Titel „Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprozess im Tierreich begleite“ erscheint 1798. Das Phänomen des Galvanismus beschäftigt sich damals noch nicht mit der Beschichtung von Werkstoffen. Es geht um nichts Geringeres als um das Leben selbst – vor allem darum, ob elektrische Ströme tatsächlich für die Bewegungen der Muskeln (also auch des Herzens) verantwortlich sind – und wenn ja, wie und warum. Medizinische Anwendungen stehen im Fokus des Interesses.
Darüber begannen Luigi Galvani und Alessandro Volta im fernen Italien zu streiten. Ritters Wirken spielte sich mitten in dieser später Galvanismusstreit genannten Debatte ab. Luigi Galvani war Arzt. In dieser Eigenschaft war er der Meinung, dass eine eigene animalische Elektrizität (Fluidum) Muskeln zur Kontraktion bringt. Volta war Physiker. Für ihn zählte die Beobachtung, dass Muskeln nur dann zuckten, wenn von außen ein Strom angelegt wurde.
Ritter indes war ein Universalgenie. Er beschäftigte sich mit beiden Theorien. Schließlich richtete er sein Augenmerk auf mögliche elektrochemische Vorgänge im Präparat d. h. in einem Muskel. So konnte er zeigen, dass weder der bloße Kontakt zweier Metalle (Volta) noch ein geheimnisvolles Fluidum (Galvani) der Auslöser elektrischer Spannungsdifferenzen ist. Vielmehr erkannte Ritter den Grund in chemischen Reaktionen, die zwischen Metall und Elektrolyt (der salzigen Körperflüssigkeit in den Präparaten) stattfinden. Er vereinte so die beiden Theorien der italienischen Wissenschaftler.
»Ritter war eine der herrlichsten Naturen je« Brentano
Ritters früher Tod wurde von seinen Freunden auf die zahlreichen Selbstversuche zurückgeführt, die er seinem Körper zumutete. Heute vermutet man, dass es eine Schwindsucht warRitter hatte sich so schon früh einen ausgezeichneten wissenschaftlichen Ruf erworben. Der mittellose Student verkehrte in höchsten Kreisen. Zu seinen Freunden (und Gönnern oder auch Gläubigern) gehören so illustre Persönlichkeiten wie der Dichter Clemens von Brentano, der Philosoph Friedrich Schelling, der Sprachforscher August Wilhelm Schlegel oder der Bergassessor Friedrich von Hardenberg. Der schreibt unter dem Pseudonym Novalis mystisch-romantische Gedichte. Seine Gedichtbände sind Bestseller. Novalis schreibt an Caroline Schlegel, die schöne Frau August Schlegels (in die er unsterblich verliebt ist): „Ritter ist Ritter. Und wir sind nur seine Knappen.“ Und Brentano, nach dem Tod Ritters, an Görres: „Ritter war eine der herrlichsten Naturen je.“
In seinen Jenaer Jahren lernt Ritter auch Goethe kennen. Jener schreibt an seinen Freund Schiller: „Rittern gestern gesehen. Er ist ein wahrer Wissenshimmel.“ Der Weimarer Geheimrat (so etwas wie Innenminister) hatte sofort das Talent des Studenten erfasst. Goethe beschäftigt sich in jener Zeit gerade mit Licht. Ritter wird dabei sein Assistent. Goethe ist vom Gleichmaß aller Dinge überzeugt. Da die unsichtbare, langwellige Wärmestrahlung Infrarot schon entdeckt ist, greift Ritter Goethes Gedanken auf: „Wenn die Natur aus gegensätzlichen Polen besteht, müsste es notwendigerweise eine äquivalente Strahlung am entgegengesetzten Ende des Farbspektrums außerhalb des violetten Bereichs geben.“ Doch Ritter will nicht spekulieren, er denkt experimentell. Er meint, „ ...dass es einer größeren faktischen Untersuchung bedürfe, um die Polarität in der Chemie, im Magnetismus oder der Wärme aufzuzeigen“ (Erlanger Literaturzeitung 1801).
Zunächst jedoch hat Ritter wieder einmal mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Er wohnt kostenlos im Gartenhäuschen seines Freundes Hofrat Voigt. Abgetragene Kleidung bekommt er von Freunden geschenkt. Ein paar Taler verdient er durch den Verkauf einer ab und zu erscheinenden Schriftenreihe. Mehrere Folgen erscheinen: „Beyträge Zur Nähern Kenntniss Des Galvanismus Und Der Resultate Seiner Untersuchung“ oder „Physisch-chemische Abhandlungen In Chronologischer Folge“, schließlich „Das Electrische System der Körper“. In seinen Schriften legt Ritter dar, dass galvanische Vorgänge immer an Oxidation und Reduktion gebunden sind.
Bei seinem Auftraggeber Frommann steht er tief in der Kreide, er hat völlig die Übersicht verloren. Frommann ermahnt ihn mehrmals, weiß aber, dass er sein Geld nie sehen wird. Überhaupt hätte Ritter nie ohne die Großzügigkeit seiner Freunde und Bekannten überleben können. Frommann, Goethe, Schlegel, Brentano, Hardenberg – nur ihre Großzügigkeit hält den jungen Forscher über Wasser. Er hätte in Jena durchaus ordentlicher Professor mit einem kleinen Gehalt werden können. Aber er scheut die Formalitäten der Bewerbung und er hat auch nicht das Geld, das er hätte aufbringen müssen, um an einen Lehrstuhl zu kommen.
»Ritter ist ein wahrer Wissenshimmel«
Goethe
In einer Sache hätte Ritter die Chance gehabt, gut zu verdienen. Noch vor Volta hatte er die Idee, verschiedene Metalle immer abwechselnd zu einer Säule aufzustapeln. Das ergab eine für damalige Verhältnisse leistungsfähige Gleichstrombatterie. Er notierte seine Gedanken bereits 1799 in sein Tagebuch – und vergaß sie. Erst 1801, als Voltas Batterie schon Standard war, stieß er wieder auf die Aufzeichnungen von damals und schreibt bedauernd: „… unter den Fällen, die ich mir schon vor zwei Jahren für anzustellende Versuche aufgezeichnet hatte, finde ich Berechnungen, in denen nicht allein bereits der Anfang einer Galvanischen Batterie (die addirten Actionen) vorkommt. Unverzeihlich bleibt es mir immer, ihr so in der Nähe gewesen zu sein, ohne je von dem, was ich täglich in den Händen hatte, braztische Anwendung zu machen.“
Kurz: Volta war schneller, besser organisiert und vernetzt und auch geschickter. Sofort nach seiner Erfindung informierte er trotz aller Schwächen der Batterie Sir Joseph Banks, seines Zeichens Präsident der Royal Society in London. Darüber hinaus präsentierte Volta seine Erfindung wenige Tage später gleich in Paris, was ihm einen Preis von 6000 Franc von Napoleon persönlich einbrachte und die prestigeträchtige Berufung ins Institut National. Immerhin: Verbilligen konnte Ritter die großen Volta'schen Säulen bei gleicher Leistungsfähigkeit. Die Säulen bestanden auf abwechselnd übereinandergestapelten Zinkplatten und Laubthalern. Ein Laubthaler war eine französische Silbermünze mit 42 Millimeter Durchmesser. Sie wies, bei 26 Gramm Gewicht, einen Silberanteil von 90 Prozent auf. Für eine leistungsfähige Säule waren Dutzende, wenn nicht Hunderte Laubthaler nötig. Nachdem die Batterie verbraucht war, waren die Münzen als Zahlungsmittel wertlos. Ritter experimentierte mit Kupferplatten und konnte die Säule entscheidend verbilligen.
Galvanische Labore müssen in Zeiten der Romantik wahre Horrorschuppen gewesen sein. Man experimentierte mit Amphibien, Säugetieren und, ja, wenn man eine menschliche Leiche bekommen konnte, auch an jener. Ritter holte sich regelmäßig amputierte Gliedmaßen aus den Krankenhäusern von Jena und der Umgebung der Stadt
In diesem Zusammenhang: Es gab unter Galvanikern damals rege Diskussionen darüber, ob die Säulen mit Doppelendplatten (Zink/Silber bzw. Silber/Zink) oder einer Einzelendplatte (Silber/Pappe bzw. Zink/Pappe) enden sollten. Unerklärliche Tatsache war, dass am Silberende einer Säule Sauerstoff, am Zinkende jedoch Wasserstoff auftrat. Ritter griff dieses Phänomen später auf. Es wird für ihn wegweisend bei seiner Entdeckung der Spannungsreihe werden.
Weitere Ergebnisse, auf die Ritter während seiner galvanischen Forschungen kam, sind die Erfindung der Trockensäule und Forschungen zur Zerlegbarkeit des Wassers in Wasserstoff und Sauerstoff. Jene Forschungen unternimmt Ritter zusammen mit seinem Lehrer Prof. Voigt. Dieser sogenannten Wasserelektrolyse wurde bislang nicht sonderlich viel Bedeutung zugemessen. Die Gewinnung von Wasserstoff aus fossilen Energieträgern ist sehr viel einfacher und wirtschaftlicher. Doch in Zeiten des Klimaschutzes und der erneuerbaren Energien arbeitet man derzeit daran, Energieüberschüsse aus Wind- und Sonnenkraft zur Wasseraufspaltung einzusetzen.
»Ritter ist Ritter. Und wir sind nur seine Knappen« Novalis
Schließlich macht sich Johann Wilhelm Ritter 1801 daran, das von ihm vermutete unsichtbare Violettlicht zu beweisen. Der Versuchsaufbau ist denkbar einfach. Er schneidet einen acht Zoll langen Papierstreifen zu, befestigt diesen auf einem Brett und bestreicht das Papier mit Hornsilber (Silberchlorid). Dieser lichtempfindliche Stoff wird später Goethes Farbkreis. Die Zusammenarbeit mit dem Dichterfürsten inspirierte Ritter zur Entdeckung des UV-Lichts auch in der Fotografie eine Rolle spielen. Dann lenkt Ritter Weißlicht durch ein Prisma, das das Weißlicht in seine Bestandteile aufspaltet, auf den Streifen. Nach kurzer Zeit färbt sich der Bereich des Streifens schwarz, der jenseits des sichtbaren Violetts liegt – die Existenz von Ultraviolett war somit bewiesen. Und damit war eine weitere Anwendungsmöglichkeit eines Ritter'schen Nachweises in der heutigen Galvanotechnik gefunden: In modernen Galvaniken werden Bauteile durch UV-Strahlung entkeimt und gereinigt.
1804 heiratete Ritter Caroline Münchgesang. Ein Kind ist unterwegs, eine Tochter. Seine Geldsorgen verstärken sich. Da kommt ein Ruf der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gerade recht. Er soll dort, verbunden mit einer Lehrtätigkeit, besoldetes Mitglied werden. Ritters Freunde legen zusammen, um der Familie den Umzug zu finanzieren. Ursprünglich hatte Ritter geplant, zwischen seiner Tätigkeit in Jena und der in München seine Eltern und seinen Heimatort zu besuchen. Doch weder das Geld noch die Zeit reichten dazu.
In München geht es der Familie anfänglich besser, doch bald hat die Akademie kein Geld mehr, um ihre Mitglieder zu bezahlen. Der Wissenschaftler ist gesundheitlich angeschlagen, erste Anzeichen einer schweren Krankheit treten auf. 1809 stirbt die Mutter in Samitz. Ritter und seine Lieben ziehen nach Nürnberg um. Dort stirbt er am 23. Januar 1810. Seine Freunde meinten, dass dies durch die vielen Selbstversuche kam, die Ritter seinem Körper zugemutet hatte. Heute vermutet man, dass die ständigen Sorgen und Entbehrungen Körper und Geist so zugesetzt haben, dass er einer beginnenden Schwindsucht einfach keine Abwehrkraft entgegenzusetzen hatte. Sein Vater überlebte den genialen Wissenschaftler um zwei Jahre. Seine Frau ihn um 13 Jahre.
Die historischen Abbildungen stammen aus dem Frauenzimmer Almanach zum Nutzen und Vergnügen für das Jahr 1803.
– wird fortgesetzt –