Zweiter und letzter Teil: Teileinsturz, Spannungsrisskorrosion, Chloridbeanspruchung
Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden am 11. September 2024 ist sicherlich der bedeutendste Fall für korrosionsbedingtes Materialversagen der letzten Zeit und dient zugleich als prominentes Beispiel für die marode Infrastruktur im Land. Der Teileinsturz der Spannbetonbrücke erfolgte ohne Vorankündigung. Ursprünglich galt die Carolabrücke als Ikone der Ingenieur-baukunst ihrer Zeit. Sie war ein sehr ästhetisches und schlankes Bauwerk. Konstruktion und Bau wären auch heute noch eine Herausforderung. Die vorhandenen Unterlagen zeugen von einer hohen Entwurfsqualität und einer sehr sorgsamen Bauausführung. Nach dem ersten Teil des Artikels in Galvanotechnik 5/2025 geht es im zweiten Teil nun um den Einsturz, den Versuch einer Rekonstruktion des Einsturzvorgangs sowie die Suche nach der Einsturzursache.
Teileinsturz im September 2024 und Ursachenforschung
In der Nacht vom 10. auf den 11. September 2024 stürzte der Brückenzug c der Carolabrücke ein. Zum Zeitpunkt des Teileinsturzes befanden sich glücklicherweise weder eine Straßenbahn noch Fußgänger oder Radfahrer auf dem Tragwerk. Die Verkehrslast betrug folglich null. Im Folgenden werden die Erkenntnisse, die bis Ende 2024 vorlagen und die zu großen Teilen im Rahmen der öffentlichen Sitzung des Bauausschusses der Stadt Dresden präsentiert wurden, vorgestellt [23].
Rekonstruktion des Einsturzes
Die Untersuchungen zur Ursache des Teileinsturzes der Carolabrücke sind mittlerweile recht weit fortgeschritten. Es wurden verschiedenste Hypothesen überprüft und umfassende diagnostische und rechnerische Analysen durchgeführt. Auch den zahlreichen Hinweisen aus der Bevölkerung und von Fachleuten wurde akribisch nachgegangen. Die vorliegenden Zwischenergebnisse deuten darauf hin, dass wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion die Hauptursache für das Versagen der Spannglieder und nachfolgend des gesamten Tragwerks war.
Es ist davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Spanndrähte im Zug c bereits seit längerer Zeit geschädigt, zum Teil auch gebrochen war. Dies legen die Befunde, die in den nächsten Abschnitten vorgestellt werden, nahe. Der daraus resultierende Verlust an Steifigkeit des Überbaus Zug c führte dazu, dass die Querverbindung zu Zug b in Höhe des Gelenkes II immer stärker belastet wurde. Es ist anzunehmen, dass genau diese Querverbindung und die dadurch mögliche Lastumlagerung auf benachbarte Brückenteile möglicherweise lange Zeit einen Einsturz verhinderte.
Für einen sich stetig verändernden Spannungszustand waren v. a. die wechselnden Verkehrslasten und Temperaturen verantwortlich. Eine besondere Überlagerung aus klimatisch bedingter Temperaturbeanspruchung und Verkehrslast führte vermutlich zu den entscheidenden Spanndrahtbrüchen, folglich zur weiteren Lastumlagerung und somit zur Überlastung der Querträgerverbindung in den Morgenstunden des 11. Septembers 2024. Im Moment des Versagens der gelenkigen Querverbindung war der Stützquerschnitt nicht mehr in der Lage, die entstehende Beanspruchung aufzunehmen.
In den zwei Wochen vor dem Einsturz war es in Dresden ungewöhnlich heiß. In der Nacht vom 10. auf den 11. September kühlte sich die Luft plötzlich sehr stark ab. Die Brückenoberseite verkürzte sich. Gleichzeitig wärmte das Elbwasser die Brücke weiterhin von unten. Dies führte zu hohen vertikalen Temperaturunterschieden und zu einer Aufwärtsbewegung der Kragarme der Kragträger. Diese Bewegung kann bspw. in den Daten der Gelenkspaltmessungen nachverfolgt werden. Die resultierenden Eigenspannungen auf Spanngliedebene waren bei Zug c etwas größer als bei Zug a, da Zug c keine puffernde Asphaltschicht besaß, die den Temperatureinfluss hätte dämpfen können.
Die Aufwärtsbewegung hat zu einer Entlastung der Querverbindung und damit einer Reaktivierung von Spannstahl über der Stütze D geführt. Infolge der Verkehrslast durch die überfahrenden Straßenbahnen, die dieser Bewegung entgegenwirkten, brachen weitere Spanndrähte. Der Kragarm Zug c stützte sich vermehrt auf die Querverbindung zu Brückenzug b ab. Letztendlich wurde die Konsole überlastet und riss ab, was in sofortiger Folge zum Versagen des Überbaus c in Achse D führte. Das Bild auf der linken Seite zeigt eine Luftaufnahme des Bauwerks kurz nach dem Einsturz.
Die statischen Analysen der Carolabrücke haben bestätigt, dass das sehr schlanke Bauwerk mit einer sehr hohen Querschnittsauslastung entworfen, konstruktiv durchgebildet und erbaut wurde. Diese Besonderheiten standen einer ausgeprägten Rissbildung, die das Versagen hätte ankündigen können, entgegen. Entweder sind die Risse wegen des extrem stark bewehrten Zuggurts bei Achse D mit kaum merklicher Dehnungszunahme bei Ausfall einzelner Stähle nicht erkennbar oder aber die Rissbreiten bleiben planmäßig so klein, dass die Ankündigung eines für die Standsicherheit kritischen Zustands faktisch gar nicht oder erst viel zu spät stattfinden würde. Eine verlässliche Vorhersage z. B. nach dem Riss-vor-Bruch-Kriterium [24] [25] wäre mit den zulässigen und üblichen Methoden daher nicht möglich gewesen.
Spannungsrisskorrosion bei der Carolabrücke
Spannungsrisskorrosion (SpRK) wird als initiale Hauptursache für den Einsturz des Brückenzugs c der Carolabrücke angesehen. Grundlegend kann wasserstoffinduzierte SpRK an hochfesten Spannstählen auftreten. Es müssen jedoch auch weitere Parameter gegeben sein. Maßgebend sind dabei meist Korrosionsvorgänge an den Spannstählen. Dafür ist eine zwingende Voraussetzung, dass der sogenannte Elektrolyt (z. B. ein Regentropfen, Kondensat oder andere Feuchtequellen) einen pH-Wert < 5 aufweist. Ist dies der Fall, erfolgt die kathodische Teilreaktion des Korrosionsprozesses unter Entstehung von Wasserstoff, infolgedessen es bei gleichzeitig auftretender Spannung zu einer Anrissbildung kommen kann. Kritisch in diesem Zusammenhang können auch eine unsachgemäße Behandlung der Stähle während des Transports oder auf der Baustelle sowie einwirkende Schadstoffe wie z. B. Chloride sein. Das sich daran anschließende Risswachstum durch wechselseitige Stimulation von Beanspruchung und Korrosion, ggf. mit einhergehender Querschnittsminderung trotz eines alkalischen Milieus durch den Verpressmörtel, kann wenige Tage, aber auch viele Jahre andauern, bis der Stahl schlussendlich durch Restgewaltbruch der verbliebenen Querschnittsfläche der betroffenen Drähte versagt.
Wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion ist eine relativ seltene Korrosionsart. Sie kann generell an höherfesten Stahlwerkstoffen (Zugfestigkeit Rm > 800 MPa) auftreten [26]. Sie ist an das Vorhandensein von spezifischen Voraussetzungen gebunden. Hierzu zählen ein Material, welches aufgrund seiner Zusammensetzung und Herstellung eine besonders hohe Anfälligkeit gegenüber dieser Art Korrosion aufweist, was auf ölschlussvergütete Spannstähle zutrifft, das Vorhandensein eines Elektrolyten mit einem pH-Wert < 5 und eine mechanische Zugbeanspruchung [27]. Alle diese Voraussetzungen waren bei der Carolabrücke in Summe gegeben.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Mechanismus der SpRK trotz des gewissenhaften Umgangs mit dem Material während des Bauens in Gang gesetzt wurde und eine Verkettung mehrerer Umstände letztlich zu diesem Gesamtergebnis führte. Dazu zählen neben der nicht vorhandenen Umlagerungsfähigkeit von Kräften in den statisch bestimmten Einzeltragwerken auch die besonderen Bedingungen der Herstellung. So wurden in den Kragträgern die durchgehenden Stegspannglieder vorgespannt und unmittelbar danach verpresst. Die nachträglichen Spannglieder jedoch, die vor allem in der Fahrbahnplatte lagen und die späteren Lasten der Einhängeträger aufnehmen sollten, wurden zunächst teilvorgespannt und verweilten während der Herstellung des Stromeinhängeträgers unverpresst im Hüllrohr. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich in dieser Zeit ein Zustand z. B. durch Kondensat im Hüllrohr einstellte, der die Bildung von Kondenswasser an den Hochpunkten ermöglichte. Die Wärmefreisetzung des erhärtenden Betons insbesondere der massiven Stege, die ein-gebauten Kühlleitungen zeugen davon, wirkte mit einem feuchtwarmen Klima im Hohlkasten sicherlich förderlich ein. Es ist bekannt, dass bereits geringe Wassermengen (Elektrolyt) in Form von Tröpfchen auf der Spannstahloberfläche genügen, um Spannungsrisskorrosion zu initiieren. Die Voraussetzungen für das Auftreten von H-induzierter SpRK waren in diesem Bauzustand über einen längeren Zeitraum gegeben. Die aufgestellte These zu den Expositionsbedingungen der lange freiliegenden Spanndrähte im unverpressten Hüllrohr (v. a. in der Fahrbahnplatte) wird durch die festgestellten Schädigungsraten von nahezu 80 % und mehr gestützt.
Frühere Untersuchungen der Bundesanstalt für Materialprüfung (BAM) hatten ergeben, dass bereits eine kurzzeitige Feuchtebeaufschlagung des Hennigsdorfer Spannstahls ausreichte, um den SpRK-Mechanismus und erste Anrisse zu initiieren. Daraus resultiert, dass die Anforderungen gemäß [21], Spanndrähte in Hüllrohren binnen zehn Tagen zu verpressen, ohne dabei besondere Schutzmaßnahmen zu applizieren, bei Tauwasseranfall keine Rissinitiierung verhindern können. Mit dem Verpressen kommt der Prozess zum Erliegen, da der pH-Wert infolge des alkalischen Verpressmörtels ausreichend hoch ist. Korrosionsprozesse zur Bildung einer schützenden Oxidschicht an den Spanndrähten erfolgen nun unter Reduktion von Sauerstoff, es erfolgt keine Wasserstoffentwicklung. Nach Bildung dieser Oxidschicht und bei intaktem Hüllrohr erfolgt keinerlei Korrosion an den Spanndrähten. Eingetretene Anrisse stellen aber bereits die initiale Schädigung dar, die sich durch ermüdungswirksame Beanspruchungen bis zum Bruch der Spannstähle ausweiten können. Dieses Szenario ist für die Carolabrücke plausibel. Die Beanspruchung durch Straßenbahnen stellt hierbei ein wichtiges Indiz dar. Während die Flächenlasten einer Straßenbahn relativ gering sind, wirkten die relativ hohen Achslasten direkt und unmittelbar ermüdungswirksam auf den Brückenzug c ein. Aufgrund der Tragwerksdurchbildung wirkte sich dies besonders kritisch auf den stark beanspruchten Querschnitt in der Pfeilerachse D mit seiner hoch ausgelasteten Druckzone aus, wo ein fortschreitender Spannstahlausfall letztlich das finale Versagen einleitete.
In den Stunden nach dem Einsturz wurde so viel wie möglich im Bereich des Bruches dokumentiert. Besonders wertvoll erwiesen sich Fotos der Bruchstelle. Abbildung 1 zeigt im oberen Teil einen Auszug aus den Bauunterlagen. Farbig wurde der Zustand der gebrochenen Bündelspannglieder gekennzeichnet. Es wurde ein sehr diverses Bild vorgefunden. Vor allem die Spannglieder in der Fahrbahnplatte waren zu einem großen Teil bereits seit Langem geschädigt. Dies ist an den äußerst dunklen Bruchflächen vieler Spanndrähte sichtbar. Diese Brüche müssen bereits während des Baus oder kurz danach, in jedem Fall aber vor geraumer Zeit eingetreten sein (links unten in Abb. 1). Bei mikroskopischen Untersuchungen der Bruchflächen gebrochener Drähte der Carolabrücke an der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) in Berlin wurden vereinzelt Mörtelanhaftungen vorgefunden, welche ein klares Indiz dafür sind, dass die betreffenden Brüche bereits vor oder beim Verpressen stattgefunden haben müssen. Die zum Zeitpunkt des Teileinsturzes im Querschnitt D intakte Spannstahlfläche wurde im Fahrbahnplattenbereich bei mehr als 2/3 aller Spannglieder zu 0 bis 20 % bestimmt. Die BSG in den Stegen waren im Wesentlichen mit weniger Schäden behaftet, wobei der Zustand stromab besser als stromauf war. Dabei ist festzuhalten, dass diese kein duktiles Bruchbild zeigen und somit nahezu alle gebrochenen Spanndrähte in Achse D eine Versprödung des Materials aufweisen. Drähte mit Anrissen wiesen die für SpRK typischen Anrisslinsen auf. Frische Bruchflächen waren metallisch glänzend ohne Korrosionsspuren (Abb. 1).
Wie aus den Aufnahmen der Bruchstellen ebenfalls erkennbar ist, wurde der eingebaute schlaffe Betonstahl wohl ohne größere Widerstände über lange Strecken aus dem Beton herausgezogen, was klar auf eine Verbundstörung hinweist. Die Gründe sind noch nicht völlig klar. Zum Teil könnten diese bis in die Herstellzeit der Brücke zurückreichen, wenn die Bewehrung beim Betonieren oder bereits während der Betonerhärtung begangen wurde oder die Betonage wegen der extrem engen Bewehrungslagen durch die Vielzahl an Spann- und Betonstahlbewehrung von vornherein kaum hohlraumfrei erfolgen konnte. Auch die detektierten Risse parallel zu den Spanngliedlagen, die später noch thematisiert werden, könnten die Verbundfestigkeit nachhaltig geschädigt haben. Dies ist umso bedauerlicher, weil in den in den aktuellen Richtlinien enthaltenen Nachweisen zum Ankündigungsverhalten sehr stark auf die Tragwirkung des von Spannungsrisskorrosion nicht betroffenen Betonstahls gesetzt wird.
Abb. 1: Ergebnisse der fotografischen Dokumentation des Spanngliedzustandes im Bruchquerschnitt Achse D Zug c (Stand Mitte Dezember 2024) BSG: Bündelspannglieder - (Grafik und Fotos: MKP GmbH, [23], mod.)
Bauwerksüberwachung bis 2024 Bericht über Messungen zu Beginn der 1990er-Jahre [12]
Eine Voraussetzung für die Standsicherheit der Brücke war eine ausreichende Vorspannung der Koppelbolzen, mit denen die Stahlgussgelenke in Brückenlängsrichtung an die Stegspannglieder angeschlossen waren. Von den insgesamt 504 Bolzen der insgesamt neun Gelenke waren deshalb 121 als kontrollierbare Messbolzen ausgeführt worden.
Die höchste Zuverlässigkeit bei der Kraftmessung versprach man sich durch die Verwendung mechanischer Feinmessuhren. Aus der Dehnungsdifferenz zwischen Nullmessung und Messung unter Last wurde auf die vorhandene Bolzenkraft geschlossen. Die Bolzenkräfte waren im Zuge der Herstellung und dann erneut in den Jahren 1974, 1979, 1982 und wieder Anfang der 1990er-Jahre bestimmt worden.
Bereits 1983 wurde eine klare Durchbiegung an Gelenk II beobachtet, die in der Zwischenzeit weiter zugenommen hatte. Mit der Messkampagne Anfang der 1990er-Jahre sollten die Ursachen und die Auswirkungen auf die Nutzung des Bauwerks erkundet und verifiziert werden. Im Hohlkasten des Zuges c wurden Neigungen, Verschiebungen, Schwingungen und Temperaturen mit verschiedenen Messmitteln an unterschiedlichen Positionen erfasst. Wegen der jahreszeitlichen Schwankungen erfolgten die Messungen teilweise über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr. Die wichtigsten Ergebnisse werden kurz vorgestellt.
Die Koppelbolzenkräfte schwankten in ihren Absolutwerten sehr stark und nahmen seit ihrer Vorspannung kontinuierlich ab.
Die Abnahme verlangsamte sich aber im Verlauf der Jahre. Die für den Rückgang der Kräfte verantwortlichen Verformungen wurden auf Kriechen und Schwinden des Betons im Anschlussbereich zurückgeführt. Schäden an den Spannstählen waren zum damaligen Zeitpunkt nicht beobachtet worden. Dieser These mit entsprechend geeigneten Belegen ist man lange gefolgt und fand auch keinen Anlass, die Frage einer ausreichenden Standsicherheit zu stellen.
Die Überfahrt einer Straßenbahn bewirkte je nach Laststellung eine Durchbiegung von Gelenk II nach unten von bis zu 12 mm und 3 mm nach oben. Für das globale Tragverhalten war dies nicht von Belang. Die Verformungen infolge klimatischer Temperaturunterschiede waren wesentlich größer und erreichten eine Spannweite von bis zu 65 mm innerhalb von 1,5 Tagen. Gegenüber der Nulllage betrugen die Durchbiegungen zwischen +20 mm (Bewegung nach oben) und –80 mm (nach unten). Auf der Basis der vorliegenden Messwerte und theoretischer Betrachtungen wurde abgeschätzt, dass sich das Gelenk II bis Anfang 1993 im Mittel um 30 cm nach unten bewegt hatte. Dies entspräche ca. 80 % der bis zum Ende der Nutzungszeit nach 80 Jahren insgesamt zu erwartenden mittleren Verformung. Kritische Folgen für das Gesamttragwerk wurden nicht abgeleitet.
Ankündigungsverhalten
Das Thema Spannungsrisskorrosion ist nicht neu [28–30]. Aus den 1980er-Jahren sind v. a. die Schadensfälle bei der Berliner Kongresshalle 1980 [31] und der Einsturz eines Binders bei einer Produktionshalle in Mannheim 1989 [30] bekannt. Daraufhin wurden diverse Anpassungen sowohl bei der Herstellung von Spannstählen als auch in den Entwurfsregelwerken zur Sicherstellung einer ausreichenden Robustheit von Spannbetonkonstruktionen eingeführt. Weiterhin wurde großer Wert auf das Vorhandensein eines Ankündigungsverhaltens derartiger Konstruk-tionen gelegt, z. B. [24], um ein kollapsartiges Versagen bei unbemerktem Spannstahlausfall zu verhindern. Aufgrund von Schadensfällen standen anfangs die vergüteten Spannstähle Neptun N40 (Felten & Guilleaume Carlswerke AG) und Sigma (Hütten- und Bergwerke Rheinhausen AG) im Fokus. Spätestens seit Mitte/Ende der 1990er-Jahre ist auch bekannt, dass der bei der Carolabrücke verbaute, ebenfalls vergütete Hennigsdorfer Spannstahl empfindlich gegenüber dieser Art der Korrosion ist [32]. Er wurde bewusst 2011 in die Liste der gefährdeten Materialien nach Handlungsanweisung Spannungsrisskorrosion aufgenommen [25]. Die grundlegende Problematik für die Carolabrücke war bekannt. Normgerecht fanden regelmäßige Bauwerksprüfungen statt, zunächst ohne Auffälligkeiten. 1996 erfolgte eine erste Nachrechnung nach [24], in der das rechnerische Ankündigungsverhalten nachgewiesen werden konnte.
Querrisse in der Fahrbahnplatte wurden erstmals im Jahre 2000 dokumentiert. Hierfür sind zwei Hauptursachen denkbar: übermäßige Kriechverformungen oder Versagen einzelner Spanndrähte in den Bündelspanngliedern (z. B. infolge von SpRK). Da die Kriechverformungen wegen der beobachteten Durchbiegungen des Tragwerks bekannt waren, wurden diese als maßgebliche Ursache für die Risse angesehen. Dies war plausibel. Die Möglichkeit von unbemerkten Spannstahlbrüchen wurde nicht in Betracht gezogen. Die detektierten Risse wiesen sehr kleine Rissbreiten auf und wurden als nicht maßgebend angesehen. Da das Ankündigungsverhalten rechnerisch vorlag, waren für den Fall einer tatsächlichen Versagensvorankündigung größere Risse erwartet worden.
Die durch den extrem hohen Bewehrungsgrad kaum wahrnehmbare Dehnungszunahme sowie die durch die hohe Auslastung eingeschränkte Rotationsfähigkeit v. a. des Stützquerschnitts in Achse D wurden nicht eingehend berücksichtigt. Ebenso wurde die entlastende Tragwirkung in Querrichtung durch die gelenkige Querverbindung am Gelenk II unterschätzt bzw. nicht berücksichtigt. Das wechselseitige Stützen der Überbauten führte zwangsläufig zu einer geringen Rissbreitenveränderung bei kritischer Schädigung eine Zuges.
Die Berechnung der Dauerfestigkeit des Spannstahls ergab keine Defizite. Zu den weiteren durchgeführten Maßnahmen gehörte die Messung der Rissbewegungen, um die Betrachtungen zur Dauerschwingfestigkeit zu untermauern. Ab 2004 wurden Fugenspaltmessungen am Gelenk II durchgeführt. Aus heutiger Sicht waren diese für die Beurteilung eines Vorankündigungsverhaltens allerdings ungeeignet.
Chloridbeanspruchung
Erwähnt sei, dass Teile der drei Überbauten, v. a. zwischen den Achsen D und E, auch Schäden infolge chloridinduzierter Korrosion aufwiesen. Als Hauptursache wurde seinerzeit eine beschädigte Entwässerungsleitung angesehen. Diese Schäden waren instand gesetzt worden, indem ein zerstörungsfreier elektrochemischer Chloridentzug (CITec Concrete Improvement Technologies GmbH, Dresden) erfolgte und die Oberflächen im Hohlkasteninneren zusätzlich rissüberbrückend versiegelt wurden. Im Zuge der Bauwerkserkundung im Herbst 2024 wurden korrodierte Spanndrähte und schlaffe Bewehrungen vorgefunden. Diese waren aber nicht versagensursächlich.
Bauwerkserkundung seit Herbst 2024
In den letzten Monaten wurde eine Vielzahl an Materialuntersuchungen in situ an den Zügen a bis c und im Labor durchgeführt. Teilweise wurden verschiedene zerstörungsfreie Prüfverfahren angewendet, um diese hinsichtlich ihrer Aussagekraft vergleichen zu können. Neben der Erforschung der Ursachen für den Einsturz wurden weitere Ziele verfolgt. Aus den Informationen über Material und Bauwerkszustand sollen:
- die Schadensursache und der Hergang des Einsturzes aufgeklärt werden,
- eine Beurteilung der Züge a und b z. B. im Hinblick auf eine (temporäre) Weiternutzung möglich sein, Rückschlüsse auf weitere Bauwerke mit vergleichbaren Problemen gezogen werden können,
- realistische Zustandsinformationen gewonnen werden, die bspw. für eine Rückbaustatik relevant wären.
Konkrete Maßnahmen seither waren u. a., dass für die Messung der Residualspannung vor dem Durchtrennen eines Drahtes ein Dehnmessstreifen an diesem appliziert wurde, um aus der Rückdehnung auf die vorhandene Spannung schließen zu können (Abb. 2). Hierbei ergab sich eine große Streubreite von spannungslos bis zu Restspannungen im erwarteten Bereich.
Abb. 2: Beprobungsstelle in der Bodenplatte des Überbaus Zug b, links DMS für die Rückdehnungs- messung und rechts Durchtrennen des instrumentierten Drahtes mittels Dremel. DMS: Dehnmessstreifen - (Fotos: Silke Scheerer)
Zudem wurden Magnetpulverprüfungen an Drähten der Carolabrücke an der BAM in Berlin durchgeführt. Abbildung 3 oben zeigt einen dieser Drähte unter UV-Licht. Es sind enorm viele Anrisse zu sehen, die eindeutig auf Spannungsrisskorrosion zurückgeführt werden können. Unten im Bild wird ein Längsschliff eines Spanndrahtes gezeigt, der ebenfalls sehr gut die typischen Anrisse zeigt. Von den bis Mitte Dezember 2024 untersuchten 37 Proben wiesen 25 Anrisse auf. Dabei wurden bei der überwiegenden Anzahl der untersuchten Drähte aus Zug c derartige Vorschäden festgestellt.
Weitere Maßnahmen waren u. a. Bohrkernentnahmen, die Öffnung von Spanngliedern und die Entnahme von Verpressmörtel und Spanndrähten, Remanenzmagnetismus und Zugprüfungen am Spannstahl.
Abb. 3: Anrissprüfung mittels fluoreszierendem Magnetpulver (oben) und Längsschliff (unten) bei zwei aus der Carolabrücke entnommenen Drähten - (Fotos: BAM Berlin, [23])
Fazit und Ausblick
Die Brücke ist entsprechend den anerkannten Regeln der Technik geprüft und überwacht worden und dennoch ist das Versagen ohne Vorwarnung eingetreten. Folglich ergibt sich die Notwendigkeit, die Regeln zur Überwachung und Prüfung kritisch zu hinterfragen und – sofern erforderlich – anzupassen. Aussagen über das Bauteilinnere lassen sich nur schwer bis gar nicht treffen. Mit den üblichen Verfahren im Rahmen von Bauwerksprüfungen ist es nicht möglich, den Zustand der Spannstähle zutreffend und umfassend zu beurteilen, solange keine äußeren Veränderungen wie Risse an den Oberflächen der Spannbetonbauteile oder untypische Verformungen der Bauteile erkennbar sind. Jedoch wären Kenntnisse zum Spannstahlzustand enorm wichtig, wie der Teileinsturz der Carolabrücke, aber auch andere sich derzeit unter Beobachtung oder im Rückbau befindliche Spannbetonbrücken zeigen.
Daher ist der Erkennbarkeit von Rissen als Indiz einer Vorankündigung eines drohenden Versagens unabhängig von der Rissbreite eine besondere Bedeutung beizumessen. Die Handlungsanweisung Spannungsrisskorrosion [25] definiert folgerichtig, dass nicht einsehbare Querschnitte, z. B. im Stützbereich, wenn dort durch Beläge oder elastische Beschichtungen eine unmittelbare Rissdetektion nicht möglich ist, als nicht nachgewiesene Querschnitte im Sinne des Ankündigungsverhaltens gelten. Eine faseroptische Überwachung der Stützbereiche könnte hier Abhilfe schaffen. In den seinerzeitigen Empfehlungen zum Nachweis des Ankündigungsverhaltens [24], die bei der Carolabrücke Anwendung fanden, waren derartige Unterscheidungen noch nicht enthalten.
Mit dem rechnerischen Vorankündigungsverhalten wird nachgewiesen, ob das Spannbetonbauteil auch bei unbemerktem und schrittweise ablaufendem Spannstahlausfall genügend Tragreserven entwickeln kann, um ein kollapsartiges Versagen abzuwenden. Hierbei spielt die gegenüber SpRK nicht sensitive Betonstahlbewehrung eine entscheidende Rolle, um bei ordnungsgemäßer Verankerung eine möglichst ausreichende Resttragfähigkeit aufbauen zu können. Parallel zu den Bewehrungseinlagen verlaufende Risse können die Verbundwirkung genauso nachhaltig einschränken wie eine zu dünne Betondeckung, weshalb dem Auffinden von Parallelrissen und der Messung der Betondeckung für das Ankündigungsverhalten eine bedeutendere Rolle zugeschrieben werden sollte.
Bei der Carolabrücke wurden Längsrisse auffällig, deren Ursache bisher nicht vollständig geklärt ist. Neben Temperaturzwängungen im Kastenquerschnitt könnten auch Ringzugkräfte infolge Rückverankerung gebrochener Spanndrähte verantwortlich sein. Bei anderen Bauwerken mit Spannungsrisskorrosion wurden derartige Risse ebenfalls bekannt und mit der Rückverankerung in Verbindung gebracht, so bei der Elsenbrücke in Berlin und der Brücke Altstädter Bahnhof in der Stadt Brandenburg an der Havel [34]. Die Handlungsanweisung legt hingegen den Schwerpunkt auf eine Biegerissbildung und untergeordnet auf Längsrisse. Messtechnische Methoden, wie z. B. das Schallemissionsmonitoring zur Erfassung von Spanndrahtbrüchen sind seit längerer Zeit bekannt, blieben jedoch weitestgehend eine Sonderlösung im Rahmen objektbezogener Überwachungen [35]. Mit dem Wissen über das spröde Versagensrisiko der Spannbewehrung ist eine Wiederinbetriebnahme der Züge a und b (Straßenbrücke) nicht zu verantworten. Diese Entscheidung wurde in vielfacher Hinsicht erörtert und gut abgewägt, da die Carolabrücke ein essenzieller Bestandteil des Dresdner Straßennetzes war. Es wurde u. a. eine Probebelastung in Erwägung gezogen. Allerdings wurden in beiden Überbauten der Züge a und b Schadensmuster ähnlich zu Zug c festgestellt, welche einen fortgeschrittenen Schädigungszustand auch bei diesen Teilbauwerken anzeigen. Darüber hinaus wurde wegen des befürchteten extrem spröden Versagensmechanismus bei der hier vorliegenden wasserstoffinduzierten Spannungsrisskorrosion eine Probebelastung als zu riskant eingeschätzt.
Der vollständige Rückbau der Carolabrücke wird sich nicht vermeiden lassen. Die Planung und Umsetzung eines Neubaus werden derzeit von der Stadt Dresden vorbereitet. Ziel ist ein schnellstmöglicher und wirtschaftlicher Wiederaufbau. Auch ein Entwurfswettbewerb ist im Gespräch.
Literatur
[23] Aufzeichnung der Sondersitzung des Bauausschusses am 11.12.204, abrufbar unter https://www.dresden.de/de/rathaus/politik/stadtrat/stadtratssitzung-live3.php und dort von Steffen Marx gehaltener Vortrag: Carolabrücke – Ursache und Hergang des Teileinsturzes. MKP GmbH, 2024.
[24] Bundesministerium für Verkehr (BMV, Hrsg.): Empfehlungen zur Überprüfung und Beurteilung von Brückenbauwerken, die mit vergütetem Spannstahl St 145/160 Neptun N40 bis 1965 erstellt wurden. 07/1993.
[25] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS, Hrsg.): Handlungsanweisung zur Überprüfung und Beurteilung von älteren Brückenbauwerken, die mit vergütetem, spannungsrisskorrosionsgefährdetem Spannstahl erstellt wurden (Handlungsanweisung Spannungsrisskorrosion). 06/2011.
[26] Kuron, D. (Hrsg.): Wasserstoff und Korrosion : Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Hubert Gräfen. Erschienen in: Bonner Studien Reihe 3, Bonn: Verlag Irene Kuron, 1986.
[27] Nürnberger, U.: Korrosion und Korrosionsschutz im Bauwesen. Bauverlag, 1995.
[28] Analyse und Auswertung von Schadensfällen bei Spannstählen. Forschung, Straßenbau und Straßenverkehrstechnik 308 (1980), S. 1–195.
[29] Mietz, J.; Nürnberger, U.; Beul, W.: Untersuchungen an Verkehrsbauten aus Spannbeton zur Abschätzung des Gefährdungspotentials infolge Spannungsrisskorrosion der Spannstähle. Abschlussbericht zum BMV-Forschungsvorhaben FE 15.209 R91P, 2 Teile: BAM-Bez.: Vh 1341 und FMPA – Nr. 34-10566, Berlin/Stuttgart, 1994.
[30] Nürnberger, U.; Beul, W.: Abschlussbericht zum BMV-Vorhaben FE 15.209: Untersuchungen an Verkehrsbauten aus Spannbeton zur Abschätzung des Gefährdungspotentials infolge Spannungsrisskorrosion der Spannstähle, Teil 2 – Untersuchungen der FMPA (FMPA-Nr. 34-10566), Stuttgart, 1994.
[31] Schlaich, J.; Kordina, K.; Engel, H.-J.: Teileinsturz der Kongresshalle Berlin – Schadensursachen, zusammenfassendes Gutachten. Beton- und Stahlbetonbau 1980 (75) 12, S. 281–294.
[32] Mietz, J.; Fischer, J.; Isecke, B.: Spannstahlschäden an einem Brückenbauwerk infolge von Spannungsrißkorrosion. Beton- und Stahlbetonbau 93 (1998) 7, 195–200 – DOI: 10.1002/best.199800370
[34] Kaplan, F.; Steinbock, O.; Saloga, K.; Ebell, G.; Schmidt, S.: Überwachung der Brücke am Altstädter Bahnhof. Bautechnik 99 (2022) 3, S. 222–230 – DOI: 10.1002/bate.202200008.
[35] Käding, M.; Marx, S.; Schacht, G.: Schallemissionsmonitoring zur Spanndrahtbruchdetektion. In: Bergmeister, K.; Fingerloos, F.; Wörner, J.-D. (Hrsg.): 2023 BetonKalender, Berlin: Ernst & Sohn, 2023, S. 745–777 – DOI: 10.1002/9783433611180.ch15, 2022.