Drehorgelbau: Die Letzten ihrer Art

Metall und Holz bergen die Melodie: Große Orchestrien haben eine Walze aus Pappelholz, in die Messingstifte und -brücken eingeschlagen sind. Je spitzer ein Stift, umso kürzer ist der gespielte Ton, je länger eine Brücke, umso länger ist er (Fotos (5): Heinz Käsinger)
  • Titelbild: Metall und Holz bergen die Melodie: Große Orchestrien haben eine Walze aus Pappelholz, in die Messingstifte und -brücken eingeschlagen sind. Je spitzer ein Stift, umso kürzer ist der gespielte Ton, je länger eine Brücke, umso länger ist er (Fotos (5): Heinz Käsinger)

Ein Schlosser arbeitet mit Metallen, ein Schreiner mit Holz und ein Kürschner mit Leder. Johann Gebert arbeitet mit allen dreien und noch mit vielen anderen Materialien mehr. Denn Johann Gebert ist einer der letzten Drehorgelbauer Europas. Bei seiner Arbeit spielt auch Galvanotechnik eine Rolle – und ein Geheimrezept zur Verzinnung von Schrauben.

Ob Drehorgel, Schaustellerorgel oder Orchestrion, die Welt der selbstspielenden Musikinstrumente ist komplex“, erläutert der 58-Jährige. „Ihr Körper besteht aus Holz; Beschläge, Saiten und Rohrleitungen sind aus Metall, Ventile und Blasebälge aus Leder und Gummituch. Zum Leben erweckt werden die eingebauten Instrumente durch Luftströme, die von einem Blasebalg erzeugt werden.“

Während diese Hardware die Instrumente eines Orchesters bildet, ist der Lochstreifen, auf dem die Musikstücke eingestanzt sind und der die Stücke schließlich ins Instrument bringt, der Musiker.

„Ein Orgelbauer darf nicht nur ein vielseitiger Handwerker, er muss auch und vor allem Musikarrangeur sein“, sagt Gebert. Am deutlichsten zeige sich dies auf der Straße. Eine gute Drehorgel ist die, deren Musik den Passanten zum Stehenbleiben bringt und dann natürlich dazu, eine Münze in den Hut zu werfen. Das unterstreicht auch eine andere Größe: der Winddruck. Der wird im Orgelbau in Millimeter Wassersäule angegeben und ist entscheidend für die Lautstärke. Eine respektable Kirchenorgel hat 30 bis 70 Millimeter Wassersäule, eine Jahrmarktsorgel bringt es spielend auf 200 Millimeter.

Spezialproblem Schrauben: Entsprechen diese weder metrischen Maßen noch dem Zollsystem, dreht Gebert sie selberSpezialproblem Schrauben: Entsprechen diese weder metrischen Maßen noch dem Zollsystem, dreht Gebert sie selber

Am Anfang von Geberts Laufbahn stand, fast schon folgerichtig, ein E-Gitarrenverstärker, den der damals Zwölfjährige gerne wollte. Der kostete 100 Mark, die er nicht hatte. Die Mutter schickte den Sohn zur Ferienarbeit nach Finsterlingen im Hotzenwald. Ein Bekannter von ihr baute dort Drehorgeln. Nach den Ferien konnte sich Gebert den Verstärker kaufen. Vor allem aber hatte er seinen späteren Lehrbetrieb gefunden. Die Ferienarbeit hatte ihm so gut gefallen, dass er beschloss, diesen Beruf zu lernen.

Schaustellerorchestrion im Technikmuseum Speyer. Gebert verarbeitete mehrere Quadratmeter Blattgold zur Veredelung der Holzoberflächen. Das Orchestrion ist im Privatbesitz und kann nicht besichtigt werdenSchaustellerorchestrion im Technikmuseum Speyer. Gebert verarbeitete mehrere Quadratmeter Blattgold zur Veredelung der Holzoberflächen. Das Orchestrion ist im Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden„Anfang der 1980er-Jahre fing ich an. Es gab 250 Mark monatlich, im dritten Lehrjahr 300 Mark. Gewohnt habe ich beim Lehrherrn in einer unbeheizten Dachkammer, wie Knechte und Mägde im Mittelalter. In der Wohnung des Chefs war immerhin die Küche beheizt, deren Herd die Kunst im Wohnzimmer mit wärmte. Manchmal dachte ich, ich erfriere.“ 1985, also in einer Zeit, als dieses Handwerk schon so gut wie tot war, hat Gebert gegen den Trend gehandelt und sich zunächst in Merdingen am Tuniberg (Südbaden) selbstständig gemacht. „In ganz Europa gibt es heute vielleicht noch zehn Drehorgelbauer“, schätzt Gebert. Der Apparat, der vor 100 Jahren auf keinem Jahrmarkt, keiner Kirmes fehlte, und der seinem Hersteller die Berufsbezeichnung gab, ist aus dem Straßenbild verschwunden. Auch Gebert musste sich andere Einnahmequellen erschließen. Heute liegt sein Arbeitsschwerpunkt in der Wiederherstellung defekter Schaustellerorgeln und Orchestrien. 90 Prozent seines Kundenstamms sind Museen. Komplette Drehorgeln baut er nur noch selten.

Viele Instrumente, die er bekommt, sind so hinfällig, dass ihre Restaurierung einem Neubau gleichkommt. Dann kommen tatsächlich auch alle Materialien zum Einsatz, aus denen so eine Orgel besteht. Leider ist der Ersatzteilmarkt so gut wie leergefegt beziehungsweise schlicht nicht vorhanden. Jedes nicht vorhandene Bauteil muss dann neu gefertigt werden.

Zwischenzeitlich ist Gebert von Merdingen ins elsässische Volgelsheim umgezogen. Dort hatte er bereits in den 1990er-Jahren das traditionsreiche „Restaurant Ott“ gekauft, das er zunächst verpachtete, ab 1999 jedoch mit seiner Werkstatt selber bezog. Das wäre an sich nicht erwähnenswert, wenn dieses Anwesen nicht alle Anforderungen an Geberts Ansprüche erfüllen würde. Der hat sich im Hauptgebäude, also in den Gasträumen und der Küche seine Hauptwerkstatt eingerichtet. In der daneben liegenden ehemaligen Kegelbahn steht jetzt die Schreinerei. Und in der alten Remise hat er sogar eine kleine Gießerei installiert.

Gebert nutzt sowohl das Sandguss- als auch das Wachsausschmelzverfahren

„Oft fehlen Drehrad, ein Griff oder ein Schmuckelement wie beispielsweise ein Kerzenhalter. Diese Teile muss ich dann möglichst originalgetreu neu gießen.“ Gebert nutzt dazu sowohl das Sandguss- als auch das Wachsausschmelzverfahren, sehr alte Gießereiverfahren: Ein vorhandenes Originalteil einer ähnlichen Orgel wird dazu zur Hälfte in eine Knetmasse eingedrückt. Die obere Hälfte wird mit Silikon aufgegossen. Später wird das Werkstück im Silikon gedreht und dann wieder von oben mit einer weiteren Silikonschicht begossen. Jetzt entfernt man das Metallstück und fügt die beiden Silikonhälften mit den Aussparungen passgenau aufeinander. In den Hohlraum gießt man flüssiges Wachs. Das wird hart und stellt jetzt als Wachsmuster das zu gießende Metallteil 1 : 1 dar. Das Wachsteil wird nun in Modellgips, Ziegelsplitt oder Schamott, stets gemischt mit Gips, eingegossen, dazu wird eine Eingusstülle eingearbeitet. Das Ganze kommt in einen Brennofen und das Wachs wird vollkommen ausgeschmolzen, durch die Tülle fließt es aus. Der entstehende Hohlraum wird nun mit dem flüssigen Metall, meistens Bronze, gefüllt. Dies geschieht wiederum durch die Tülle. Ein wichtiger Faktor: Das in der Gips-Sand-Mischung gebundene Wasser muss vollständig verdampft sein. Sonst kommt es beim Einfüllen der Bronze zu einem ähnlichen Effekt, als wenn man versucht, brennendes Fett mit Wasser zu löschen. Im weniger schlimmen Fall wird die Oberfläche des Werkstücks einfach nur hässlich.

Sandgussverfahren: Das flüssige Metall wird in ein Sandbett aus Modellgips, Ziegelsplitt oder Schamott gegossen. Dieser Sand ist sehr formstabilSandgussverfahren: Das flüssige Metall wird in ein Sandbett aus Modellgips, Ziegelsplitt oder Schamott gegossen. Dieser Sand ist sehr formstabil

„Das A und O bei diesem Verfahren ist die Oberflächenbehandlung des Wachsmusters. Je perfekter die Wachsoberfläche, desto weniger Arbeit hat man später mit dem fertigen Metallstück. Denn jenes muss natürlich nach dem Gussvorgang durch Schleifen und Polieren noch gefinisht werden“, erklärt Gebert. Apropos Gießerei: Als in Freiburg eine Traditionsgießerei schließen musste, kaufte Gebert einen Teil der alten Ausrüstung. Die bildet heute den Grundstock seiner Gießereiausstattung.

Wachsausschmelzverfahren: Fehlende Metallteile eines Instruments gießt Gebert neu. Zunächst wird ein Muster aus Wachs gefertigt. Je hochwertiger dessen Oberfläche, umso besser wird später das MetallteilWachsausschmelzverfahren: Fehlende Metallteile eines Instruments gießt Gebert neu. Zunächst wird ein Muster aus Wachs gefertigt. Je hochwertiger dessen Oberfläche, umso besser wird später das Metallteil

Gebert ist nicht nur ein ausgewiesener, international tätiger Fachmann seines Gebiets, er kennt auch die Geschichte und Geschichten rund um seine Branche. Dass Waldkirch, einer der Hotspots des Musikautomatenbaus, quasi in Sichtweite von Volgelsheim liegt, hat die Geschäftsentwicklung seines Betriebs kaum beeinflusst. Aber Gebert weiß, dass sich dort vor dem Ersten Weltkrieg die beiden französischen Marktführer Gavioli und Limonaire im Gerangel um deutsche Marktanteile beharkten. Das schwächere Unternehmen Limonaire hat den Konkurrenzkampf gewonnen. Gavioli experimentierte damals mit einem neuartigen Blasebalg, der sich nicht bewährte und das Unternehmen Marktanteile kostete. Es zog sich zurück und Limonaire übernahm in Waldkirch dessen Räume. Dieser Erfolg übertrug sich ins Heimatland. In Frankreich nennt man Drehorgeln, korrekt übersetzt, eigentlich orgue de barbarie. Aber umgangssprachlich sagt man noch heute limonaire. Auch Limonaire musste später Waldkirch räumen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurden französische Unternehmen in Deutschland nicht mehr geduldet.

Die Blütezeit von selbstspielenden Musikinstrumenten lag zwischen den Jahren 1850 und 1930. In Belgien zum Beispiel entstanden riesige Tanzorchestrien, die in Ballsälen betrieben wurden. Europaweit standen in Gasthäusern sogenannte Wirtshausorchestrien, abgespeckte Ausführungen.

„Es müssen Tausende selbstspielender Musikinstrumente gewesen sein, die damals gebaut und ausgeliefert wurden“, meint Gebert. Wie viele heute davon noch übrig sind, weiß keiner. Aber anhand eines Teilmarkts lassen sich eventuell Schätzwerte ermitteln. So baute das in Leipzig ansässige Unternehmen Hupfeld um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zwischen 1100 und 1500 Exemplare des Premiumorchestrions Phonoliszt-Violina. Nur 65 davon sind heute noch erhalten. Wobei ein gut erhaltenes bzw. restauriertes Modell in unseren Tagen gerne zwischen 400.000 und 700.000 Euro wert ist.

Blick ins Schraubenlager: Wo immer sich die Gelegenheit bietet, kauft Gebert Bestände alter Schrauben aufBlick ins Schraubenlager: Wo immer sich die Gelegenheit bietet, kauft Gebert Bestände alter Schrauben aufTatsache ist, dass Geberts Auftragsbücher trotz der geringen Stückzahlen von erhaltenen Drehorgeln & Co. immer auf zwei, drei Jahre hinaus gefüllt sind. Das beruhigt einen Selbstständigen natürlich einerseits, andererseits macht es ihn auch unflexibel und er muss viele Auftraggeber vertrösten – die unter Umständen dann für immer weg sind.

Der Ein-Mann-Betrieb Gebert verfügt über eine Fertigungstiefe, die jedes Industrieunternehmen vor Neid erblassen ließe. Das kommt wie bereits beschrieben daher, dass es kaum fertige Bauteile oder gar Originalersatzteile gibt. Jedes noch so kleine Bauteil muss selber hergestellt werden. Sogar Intarsienarbeiten restauriert oder repariert Gebert selber. Und da stoßen viele Restauratoren, nicht nur die selbstspielender Musikinstrumente, auf Probleme, an die ein Laie in der Regel nicht denkt: Natur- und Artenschutz.

„Seltene Tropenhölzer oder tierische Materialien wie Elfenbein unterliegen heute einem Handelsverbot“, weiß der Restaurator. „Sie sind nicht beliebig auf dem Markt verfügbar. Plastik zu verarbeiten ist verpönt.“ Also kauft Gebert, wo immer er es kriegen kann, solche Materialien gebraucht. Denn Zweitverwendungen sind nicht von den Verboten betroffen. „Seltsamerweise sind Elfenbeinteile aus Mammutstoßzähnen frei verfügbar“, weiß Gebert.

Auch an anderer Stelle würde die Verarbeitung von Kunststoff zwar eine Erleichterung bringen, wird jedoch tunlichst vermieden – bei den Rohrleitungen. In einem großen Orchestrion verlaufen bis zu 750 Meter Bleirohre, die die Luftströme transportieren. Es wäre einfach, sie durch Plastikrohre zu ersetzen, aber damit werden zwei Probleme geschaffen: Erstens klingen die Orchestrien dann nicht mehr so gut und zweitens sind Plastikrohre lange nicht so haltbar.

Neu gegossener Spieltisch aus Bronze. Eine Freiburger Galvanik veredelte die Oberfläche durch eine Nickelschicht. Derartige Aufträge sind in Galvanikbetrieben eher unbeliebt. (Fotos: J. Gebert)Neu gegossener Spieltisch aus Bronze. Eine Freiburger Galvanik veredelte die Oberfläche durch eine Nickelschicht. Derartige Aufträge sind in Galvanikbetrieben eher unbeliebt. (Fotos: J. Gebert)Ein weiteres Problem sind, so seltsam das klingen mag, Schrauben. Um so originalgetreu wie nur möglich bei der Instandsetzung einer Orgel zu bleiben, verwendet Gebert nur die damals üblichen Schlitzschrauben. Kreuzschlitz oder gar Torx bleiben tabu. Schwierigkeiten gibt es immer dann, wenn die Schraube weder Zoll- noch Metermaß aufweist. Viele Hersteller damals haben einfach eigene Maße verwendet. Auch darauf ist er eingestellt. Gebert verfügt über ein ganzes Arsenal verschieden starker Metallstangen – von XXS bis XXL. Daraus dreht er, falls Not am Mann, die geforderte Größe selber. Darüber hinaus kauft er, wo immer möglich, in alten Schreinereien die Bestände alter Schrauben auf. Nicht einmal gebrauchte verschmäht er. Die bereitet er, mittels Gleitschleifen, wieder auf.

Galvanisierte Oberflächen braucht Gebert zwar regelmäßig auch, jedoch eher selten. Diese Arbeit gibt er dann aus dem Haus an eine Freiburger Galvanik. „Aber“, so betont Gebert, „diese Aufträge sind eher unbeliebt. Meistens handelt es sich um recht schwierig zu bearbeitende Stücke wie beispielsweise die bronzenen Spieltische. Die sind verziert, ziseliert, haben Hinterschneidungen und Hohlkehlen, also kurz alles, was ein Galvaniseur nicht mag.“

Aber so ganz ohne Beschichtung kommt auch ein Orgelbauer nicht aus und so verrät er den Lesern der „Galvanotechnik“ ein Geheimrezept zur Verzinnung von Schrauben, das dem Galvanisieren recht nahe kommt, jedoch ohne Strom funktioniert: In einen Kochtopf wird destilliertes Wasser gegeben, dazu eine ordentliche Prise Kaliumhydrogentartrat, das Kaliumsalz der Weinsäure. Zinnspäne und Schrauben beifügen, etwa eine Stunde unter stetigem Umrühren kochen. Anschließend sind die Schrauben sauber verzinnt, Gebert spricht von einem sehr guten Ergebnis.

Gebert wäre nicht Gebert, wenn er schließlich nicht noch eine Geschichte auf Lager hätte: Als Giuseppe Verdi eines Tages durch Mailand spazierte, stieß er an einer Straßenecke auf einen Drehorgelspieler, der aus seinem Kasten ein müdes Stück aus „La Traviata“ hervorquälte. Verdi trat zu ihm, stellte sich als Komponist des Stückes vor und forderte den Spieler auf, es schneller zu spielen. Tatsächlich legte der Drehorgelmann einen Zahn zu. Als Verdi Tage später zufällig wieder auf den Mann traf, prangte ein Schild an der Drehorgel: „Schüler von Giuseppe Verdi“.

 

  • Ausgabe: Juni
  • Jahr: 2025
  • Autoren: Heinz Käsinger
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