Ohne den Higgs-Mechanismus hätten Teilchen keine Masse. Das 2012 entdeckte Higgs-Teilchen entsteht als schwingende Anregung des Higgs-Feldes, das die Welt durchdringt. Interessanterweise zeigt Supraleitung ähnliche Eigenschaften. Ihre quantenmechanische Welle, in der die zu sogenannten Cooper-Paaren verbundenen Elektronen gewissermaßen surfen, lässt sich mit einem starken Laser zu Higgs-Schwingungen anregen. Diese Schwingungen senden dann ein Signal aus, das eine komplette Information über diesen kollektiven Quantenzustand liefert. Es kann helfen, das noch ungelöste Rätsel der Hochtemperatur-Supraleitung besser zu verstehen. Entwickelt wurde die neue Higgs-Spektroskopie von einem internationalen Forscherteam, an dem auch das Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart beteiligt ist.
Im Gegensatz zu den altbekannten konventionellen Tieftemperatur-Supraleitern können Physiker aber den äußerst komplexen Mechanismus der Hochtemperatur-Supraleitung bis heute nicht erklären. Die völlig neue experimentelle Methode, die zum ersten Mal erfolgreich an Hochtemperatur-Supraleitern eingesetzt wurde. könnte aber hier weiterhelfen. Mit der Higgs-Spektroskopie kann der supraleitende Grundzustand in kompletter Form transparent gemacht werden. Wie das Higgs-Teilchen gehören auch die Cooper-Paare, die jeweils aus zwei Elektronen entstehen und die Supraleitung tragen, zur quantenmechanischen Familie der sogenannten Bosonen. Bosonen versammeln sich gerne in einem gemeinsamen Quantenzustand. Zusammen bilden die Cooper-Paare eine große quantenmechanische Welle, ein kollektives Quantenobjekt, die sich als elektrischer Strom ohne Reibung durch den Supraleiter bewegen kann.
Die Cooper-Paare kann man sich wie Hanteln vorstellen: Die Elektronen entsprechen den Gewichten, und die Verbindung zwischen ihnen ist der Griff, der wie eine Feder funktioniert. Damit können die Elektronen im Cooper-Paar gegeneinander oder miteinander schwingen. Das sind die Higgs-Schwingungen und es war lange nicht klar, ob diese bei Cooper-Paaren überhaupt angeregt werden können. Genau das tut aber die Higgs-Spektroskopie: Mit einem starken Terahertz-Laserstrahl in passender Frequenz zwingt sie die Cooper-Paar-Hanteln zum Schwingen und lässt sie überdies rotieren. Dabei verhält sich das Kollektiv der Cooper-Paare wie ein Saiteninstrument, das mit seinem Resonanzkörper auch Obertöne hervorbringt. Die supraleitenden Paare schwingen dann mit der zweifachen Frequenz des Laserlichts und zeigen dabei charakteristische Symmetrien auf. Dabei senden sie ein Signal in der dreifachen Frequenz aus. Dieses Signal enthält nun eine komplette Information über das Quantenobjekt des supraleitenden Grundzustands. Das ist das Neue an der Higgs-Spektroskopie, sie macht Supraleitung auf einen Schlag transparent für den Blick von außen. Und damit wächst auch die Hoffnung der Forscher, den sehr temperaturbeständigen Paarungsmechanismus der Hochtemperatur-Supraleitung endlich besser verstehen zu können.
Tatsächlich zeigen die ersten Ergebnisse an verschiedenen Kuprat-Supraleitern, dass schon oberhalb der Temperatur, bei der Supraleitung eintritt, sich einige Elektronen zu einer Art halbfertiger Cooper-Paare zusammenschließen. Ein genaueres Verständnis dieser lockeren „Verlobung“ der Elektronen noch vor der echten Cooper-Paar-Trauung könnte vielleicht einen Weg zur Supraleitung bei Raumtemperatur eröffnen. Auf jeden Fall hat die Supraleitungsforschung mit der Higgs-Spektroskopie nun ein mächtiges Werkzeug in der Hand.