Die Dr.-Ing. Max Schlötter GmbH & Co. KG aus Geislingen an der Steige ist ein Schwergewicht in der deutschen Galvano- und Oberflächentechnik. Ihr Geschäftsmodell basiert auf der Entwicklung und dem Verkauf moderner Elektrolyte und der dazugehörigen Anlagentechnik. Während Deutschland und die Welt von tiefgreifenden Umwälzungen in Industrie und Wirtschaft geprägt sind, baut der 112 Jahre alte Mittelständler auf stabile Werte und eine zukunftsfähige Forschung und Entwicklung.
Besuche bei Zulieferern der Galvanoindustrie sind mitunter sehr ergiebig. So auch bei Schlötter: Die Schnittstellen des Elektrolytherstellers reichen vom größten bis hinunter zum kleinsten Unternehmen der Branche. Denn fast jede Galvanik hat schon einmal Produkte aus dem Hause Schlötter erworben: in Form von Spezialchemikalien, mit denen der Elektrolyt angemischt wird, oder als fertiger Elektrolyt im Gefahrgut-Container. Andere kennen die Firma als Anlagenbauer. Das Geislinger Unternehmen hat damit die Hand am Puls der Branche mit Erkenntnissen zu wechselnder Nachfrage und neu aufkommenden Trends. Schlötter selbst ist dabei eine Art Fels in der Brandung, der die Kontinuität bewahrt und mit seinem Angebot und seiner Erfahrung Halt gibt.
Im Herzen der Forschung
Ortstermin in Geislingen an der Steige mit den CEOs Dr. Stefanie Geldbach und Dr. Michael Zöllinger sowie COO Thomas Haberfellner. Schnell wird deutlich: Das Herz des Unternehmens schlägt für die Forschung, seit Chemieingenieur Dr.-Ing. Max Schlötter es in den letzten Jahren des Kaiserreichs in Leipzig ins Leben rief. Heute tüfteln Galvanotechniker, Chemieingenieure, Chemielaboranten sowie Materialwissenschaftler in einem eigenen Forschungsgebäude, unterteilt in Elektrolytentwicklung sowie Service- und Analytiklabore, an Problemlösungen oder Neuentwicklungen für die Branche. Der Forschungsbau ist herrlich gelegen: Vom ersten Stock des Gebäudes von 1968 mit seinen insgesamt 2500 Quadratmetern Fläche reicht der Blick aus den großen Fenstern weit hinauf zu den bewaldeten Hügeln rund um Geislingen, auf denen Burgruinen und Windräder thronen.
Im Physikalischen Labor steht Dr. Felix Goll an einem Zuschnittapparat für Leiterplatten. Um ihn herum Röntgen- sowie Digital- und Analogiemikroskope zur genauesten Untersuchung von Oberflächen. Dr. Goll schneidet ein Teil aus einer größeren verkupferten Platte, das später in Epoxidharz eingebettet und unter dem Mikroskop analysiert wird. Ziel ist es, die Sacklochbohrungen der Leiterplatte präzise zu vermessen, um deren Beschichtung optimieren zu können. Hier steht auch ein brandneues Mikroskop, das nanometergenaue 3D-Analysen ermöglicht. So können Elektrolyte auf noch fundierterer Grundlage entwickelt werden.
Weiter geht es zum Chromatografielabor für die Untersuchung eingeschickter Kundenproben – immerhin 20.000 im Jahr, an denen rund 100.000 Parameter analysiert werden. Methoden sind die Kapillarelektrophorese, Spektroskopien und vier Maschinen für die Hochleistungsflüssigchromatrographie (HPLC). Ermittelt wird z. B. die Langlebigkeit von Beschichtungen durch den jeweiligen Elektrolyten. Häufig wird dann geprüft, ob z. B. Zusatzkonzentrationen erforderlich sind.
Das Qualitäts- und Servicelabor nimmt alle Rohstoffe, die hereinkommen und hinausgehen, genauestens unter die Lupe. Entscheidende Apparatur hier ist der Titrator, der mehr als 200 Proben aufnehmen und auf ihre Metallgehalte und weitere Eigenschaften analysieren kann. Andere Analysegeräte ermitteln Haupt- und Fremdmetallgehalte. Auf den Labortischen stehen zahlreiche Gefäße mit Elektrolyten sowie Vor- und Nachbehandlungen neben elektrischen Apparaturen und Analysetechnik aller Art. Neben der Kontrolle ein- und ausgehender Rohstoffe und Produkte tüfteln die Chemiker und Galvanotechniker hier auch an Lösungen für Probleme wie z. B. den unzureichenden Glanz von Bauteilen nach der Beschichtung. Bei einem solchen Fehlerbild testen die Geislinger den Elektrolyten und beraten Betriebe dann auf Basis ihrer Ergebnisse. In diesem Fall geht die Empfehlung hinaus, Glanzzusatz hinzuzufügen. Durchschnittlich zwei Tage dauern die Analysen, wie Galvanotechniker und Service-Chef Christian Mösle erklärt – dann erhält die Galvanik in der Regel ihr Ergebnis.
Trends: Die Wette auf die Zukunft
Trendforschung und Neuentwicklungen finden in der Entwicklung statt, wo Dr. Nils Ulrich gerade mit weißem Laborkittel seinen Dienst verrichtet. Er arbeitet an einem kleinen Test-Elektrolyseur. Überraschend: Nicht nur Kathode, Anode und Bipolarplatten erhalten im Elektrolyseur galvanische Beschichtungen, sondern auch Edelstahlfliesen zum Gasabtransport. Ulrich arbeitet aktuell mit einem Proton-Exchange-Membran (PEM)-Elektrolyseur, Schlötter beschäftigt sich aber auch mit der alkalischen (AEL) und Anionen-Exchange-Membran (AEM)-Elektrolyse. Das Unternehmen ist gemeinsam mit weiteren Partnern im AEM Direkt-Projekt H2 GIGA der Bundesregierung involviert. Hier geht es um die AEM-Elektrolyse. „Das ist eins der ganz wichtigen Zukunftsprojekte“, betont Dr. Zöllinger. Er wünscht sich, dass die Elektrolyse eines Tages in Deutschland stattfindet – aber ihm fehlt angesichts vertaner Chancen in der Vergangenheit, wie dem verpassten Aufbau einer Solarindustrie, der Glaube.
Bei der Expertise für die heutige Photovoltaik war und ist Deutschland führend. Eine Industrie wurde aber in China aufgebaut, was zu den bekannten Abhängigkeiten vom Reich der Mitte führte. „Wenn wir die Chemie und die Systeme liefern können, ist das auch in Ordnung für uns“, schraubt Dr. Zöllinger daher seine Erwartungen herunter. Dr. Ulrich hat inzwischen einen sogenannten Stack aus mehreren Elektrolysezellen auf den Labortisch gestellt. Ein rechteckiges metallisches Gebilde, das durch Schrauben und Nieten zusammengehalten wird. „Die Beschichtung spielt eine riesige Rolle bei der Effizienz des Elektrolyseurs“, sagt er. Und seine Forschungsarbeit lohnt sich. Der aktuelle Versuch konnte die Spannung bei der Wasserspaltung um 20 Prozent reduzieren, wodurch Kosten gesenkt und die Wasserstoffproduktion erhöht wird. Bei der Elektrolyse sind zahlreiche Dinge zu bedenken. Die PEM-Elektrolyse etwa erfolgt in saurer Umgebung, deswegen spielt Korrosionsstabilität eine große Rolle. Das führt derzeit allerdings nicht zum verstärkten Einsatz galvanischer Schutzschichten, sondern zur Verwendung korrosionsresistenter Metalle wie Titan. Denn Schichten mit hohem Korrosionsschutz sind oft passiv, leiten also nicht – das jedoch ist im Elektrolyseur von Nachteil. „Einen Elektrolyseur zu bauen ist keine Raketenwissenschaft“, ordnet Dr. Zöllinger die Thematik ein. Die Technologie ist schon älter, die Oberflächen einigermaßen bekannt. „Der Teufel liegt im Detail“, weiß der Manager. „Hier effizientere Materialsysteme hineinzubringen, ist die eigentliche Herausforderung.“
Vom Becherglas zum Praxistest
Ist eine vielversprechende Entwicklung im Becherglas gelungen, erfolgt der Lackmustest im neuen Galvanotechnikum, das 2017 eingeweiht wurde. 80 Badstellen reihen sich dicht an dicht mit insgesamt 400 Litern Elektrolyt von Kupfer und Zink über Chemisch Nickel und Silber bis hin zu Passivierungen, Versiegelungen, Chrom(III) und vielem mehr. Im Leiterplattenbereich weiter hinten ist ein Rüttler zu hören – ein durchdringendes Geräusch, das dem einer Schlagbohrmaschine ähnelt. Er soll Luftbläschen aus den feinen Bohrungen der Leiterplatte entfernen, damit die Metallisierung gelingt. Von der gut bestückten „Bäderlandschaft“ gehen Räume ab. Hier findet sich u. a. die Gestellwerkstatt, wo je nach Beschichtungsanforderungen, z. B. Maskierung, das passende Gestell mit Haken realisiert wird. In anderen Räumen stehen Strahlkabinen, um Oberflächenmechaniken zu bearbeiten, oder Schleif- und Poliermaschinen.
Alle Verfahren der Geislinger Galvanoexperten können hier abgebildet werden. Erfüllen die Praxistests neuer Verfahren die Erwartungen, folgt die großtechnische Herstellung entweder in Geislingen oder am Fertigungsstandort in Irland. Im Technikum sind darüber hinaus alle Arten von Korrosionstests möglich. Um die verfügbaren technischen Möglichkeiten voll ausschöpfen zu können, arbeitet das Unternehmen auch eng mit dem Forschungsinstitut Edelmetalle und Metallchemie (fem) in Schwäbisch Gmünd sowie der Hochschule Aalen und der Universität Ulm zusammen. Das Technikum ist nur in einem Sektor nicht so firm: im Schmuckbereich, etwa bei der Vergoldung. Über gutes Know-how verfügt Schlötter aber bereits wieder bei technischem Gold, wie es z. B. im Leiterplattenbereich für leitfähige Oberflächen erforderlich ist.
Das Technikum ist auch für die Ausbildung elementar. 16 Auszubildende, davon zehn neue, beschäftigt Schlötter aktuell, von denen viele im Technikum ein- und ausgehen, ebenso wie duale Studenten und Pflichtpraktikanten. Die Azubis lernen hier auch Schleifen, Bürsten und Polieren, „um ein Verhältnis zum Material zu entwickeln“, wie Thomas Haberfellner erklärt.
Apropos Verhältnis: Haberfellner ruft beim Rundgang im Technikum noch einmal ins Gedächtnis, wie dünn galvanisch abgeschiedene Schichten eigentlich sind – gegenüber den 80 bis 120 µm, die dem Durchmesser eines Haares entsprechen, sind Kupferschichten nur 20 und Chromschichten sogar nur 0,3 µm dick.
Galvanotechnik auf dem Prüfstand
Besonders stolz sind die Gastgeber Dr. Geldbach, Dr. Zöllinger und Haberfellner auf einen neu entwickelten Prüfstand für Tribologie, der in dieser Form bislang einmalig ist. Anlässlich der steigenden Bedeutung von sogenannten Kontaktflächen, also funktionalisierten galvanischen Beschichtungen, haben die Schlötter-Anlagenbauer zusammen mit der iChemAnalytics GmbH eine Anlage entwickelt, die mit ihren vier Werkstückaufnahmen hinter der Sichtscheibe ein bisschen an einen überdimensionalen Kaffee-Vollautomaten erinnert. Pascal Grimm führt hier gerade einen Reibwertstest durch und vergleicht dabei Hartsilber und Silbergrafit. Auf winzigen Tischchen sind Proben eingespannt. Startet die Anlage, bewegen sich die Tischchen mit den beschichteten Proben kontinuierlich vor und zurück. Ein darüber hängender Gegenstand trägt dann die Schicht ab. In einer Nacht können so 10.000 Zyklen simuliert werden. Die Anlage kann in ihrem Inneren eine Temperatur von 15 bis 40 Grad sowie eine Stickstoffatmosphäre erzeugen und Messungen live überwachen – Anlagentechnik vom Feinsten. Ergebnis des Vergleichs: Silbergrafit hat einen höheren Reibungswiderstand, zumindest in der hier erprobten Beschichtungsvariante.
Dreiklang aus Zuverlässigkeit, Service und Forschung
Der einflussreiche Bankier Alfred Herrhausen – zu trauriger Berühmtheit gelangt durch seine Ermordung bei einem RAF-Bombenattentat – galt in den 1980er-Jahren als Sprecher der „Deutschland AG“. Er sagte einmal: Man kann auf Dauer Produkte nur verkaufen, wenn man einen guten Ruf hat. Davon ist auch die Schlötter-Spitze überzeugt, die nach der Besichtigung nun in einem Sitzungssaal Rede und Antwort steht. Im Gespräch fallen im Zusammenhang mit der Kundenpflege Worte wie „partnerschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe“ und „Unterstützung mit breitem Basiswissen auf dem Stand der Technik“. Der traditionsreiche Mittelständler setzt bei den Kundenbeziehungen auf den Dreiklang aus Zuverlässigkeit, Service und Forschung. „Der Markt ist momentan so in Bewegung, dass der Service einen sehr hohen Stellenwert einnimmt“, weiß Ex-Servicechef Haberfellner. Deshalb wird bei Schlötter der gute Service auch in Zukunft erhalten bleiben, sind sich die drei Gastgeber einig. Die jahrzehntelange Erfahrung ist ein Pfund, das die Unternehmensspitze auch in Zukunft in den Ring werfen will. „Erfahrung ist durch nichts zu ersetzen als durch mehr Erfahrung“, sagt Dr. Zöllinger. Liefertreue – also Zuverlässigkeit – sichert Schlötter zugleich mit einer hohen Lagerhaltung ab. Auch hier weicht das Unternehmen von der allgemeinen Marktpraxis ab, die von der Senkung der Lagerbestände geprägt ist. Und die Forschung? Genießt schon immer Priorität, wie nicht nur die modernen Labore und das Technikum zeigen. Rund 20 Prozent der Mitarbeiter in Geislingen arbeiten in der Forschung und Entwicklung.
Eine Welt in Unordnung
Das Geschäft des mittelständischen Familienunternehmens reicht inzwischen über Deutschland hinaus. Im Zuge der Jahrzehnte hat Schlötter ein Netz aus Standorten von Irland und England über Schweden bis nach Singapur und China aufgebaut. Kürzlich kam noch Taiwan mit zehn Beschäftigten hinzu. Produziert wird nur in Europa, die Lieferketten haben aber trotz der vielfältigen Marktstörungen der vergangenen Jahre gehalten. „Wir sind niemals an den Punkt gekommen, an dem wir nicht lieferfähig waren“, sagt Dr. Zöllinger nicht ohne Stolz. Doch auf den Weltmärkten verschieben sich inzwischen die Parameter. Bislang spielte die Chemikalienverordnung REACH überraschenderweise mal eine erfreuliche Rolle, indem sie Schlötter in Europa mit ihren hohen Anforderungen vor dem weniger reglementierten Wettbewerb aus dem Ausland schützte. „Das wurde nun dort allerdings erkannt“, verrät Dr. Zöllinger und ergänzt: „Jetzt werden z. B. in China und der Türkei ganz ähnliche Systeme aufgebaut.“ Die Folge: Der Handelsvorteil in Europa schwindet, während das Geschäft außerhalb der EU schwieriger wird – „besonders für ein vergleichsweise kleines Unternehmen wie uns“, wie Dr. Zöllinger zu bedenken gibt.
Um die jeweiligen gesetzlichen Bedingungen einzuhalten, wird viel selber gemacht und der Fokus auf Produktsicherheit und Transport gelegt. Der Schwerpunkt der Auslandsaktivitäten liegt auf Europa sowie Asien. Erste Fühler werden derzeit auch in die Vereinigten Staaten ausgerichtet. China dagegen – bislang für Schlötter mit zwei Standorten ein Markt mit sehr hoher Nachfrage, aber auch großer, ständig wachsender Konkurrenz – verliert an Strahlkraft, während Südostasien an Attraktivität gewinnt. Schlötter reagiert darauf mit verstärkten Service-Anstrengungen in der Region. „Asien ist für uns wirklich essenziell“, erklärt Thomas Haberfellner die Bemühungen. Um die weltweiten Aktivitäten bedienen zu können, stehen im Unternehmen im Schnitt jederzeit 1200 Tonnen Rohstoffe und Fertigprodukte bereit. In Zeiten der Just-in-Time-Produktion eigentlich ein Anachronismus, „bei dem jeder Controller angesichts des in Produkten gebundenen Kapitals die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde“, wie Dr. Zöllinger zugibt. Doch anders als ein Konzern plant ein Familienunternehmen über Generationen hinweg. Das verpflichtet zu Beständigkeit und Tradition, ohne jedoch Innovationsfähigkeit und Flexibilität einzubüßen, wie er betont.
Regulation: Mühlstein der mittelständischen Wirtschaft
Innovativ und anpassungsfähig zu bleiben, ist im Deutschland der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts gar nicht so leicht. Das Land ist aktuell von beginnender Rezession, hohen Energiekosten und überbordender Regulation geprägt. Ob es um Nachhaltigkeit, Cybersicherheit, Lieferketten oder kritische Rohmaterialien geht – die Berichtspflichten haben sich gefühlt verdrei- oder vierfacht, wie Dr. Stefanie Geldbach beschreibt. Sie gibt zu bedenken, dass für den ständig steigenden administrativen Aufwand der Einsatz hochqualifizierter Arbeitskräfte erforderlich ist, der keinen Ertrag bringt. In mittelständischen Unternehmen wie Schlötter wird das als Wettbewerbsverzerrung wahrgenommen. Schließlich müssen außereuropäische Wettbewerber diesen Berichtspflichten nicht nachkommen. Und die damit zusammenhängenden Kosten sind nicht mit einem Betrag aus der Portokasse abzugelten. Um die vielfältigen Compliance-Regeln zu erfüllen, sind bei Schlötter allein sechs Beschäftigte erforderlich, drei davon promovierte Chemiker. „Als ich hier angefangen habe, war es eine Mitarbeiterin mit einer 70-Prozent-Stelle, die das neben ihrer Assistenz zur Forschungs- und Entwicklungsleitung gemacht hat“, nennt Thomas Haberfellner einen Vergleich aus der Anfangszeit seiner 38-jährigen Betriebszugehörigkeit. Bitter ist auch, dass große Unternehmen ihre Berichtspflichten gerne an ihre mittelständischen Kunden weitergeben. „Wenn das alle machen, brauchen wir bald zwei weitere Leute“, blickt Haberfellner voraus. In Summe: eine gewaltige Belastung für den Mittelstand, die die Kosten für Unternehmer nach oben treibt. Kein Grund allerdings für Hysterie, so Dr. Zöllinger mit Blick auf die vielen überwundenen Krisen bei Schlötter im Laufe der Jahrzehnte. „Wir sollten nicht sagen, dass hier alles morgen den Bach runtergehen wird, denn das wird es nicht. “ Doch er räumt ein, dass viele Branchenunternehmen deutlich vulnerabler sind als Schlötter. Strafen oder eine „schlechte Presse“ können die Existenz eines Betriebes schnell bedrohen – entsprechend groß ist auch der Beratungsbedarf, den die Geislinger Galvanoexperten leisten müssen.
Funktionale Galvanotechnik im Aufwind
Die Bestandsaufnahme der Branchennachfrage im Herbst 2024 verrät nichts grundsätzlich Neues: Zink-Nickel hat sich über die Jahre in der Automobilindustrie im Rahmen des kathodischen Korrosionsschutzes etabliert. Hier geht es überwiegend um zusätzliche Funktionalitäten, etwa Versiegelungen, andere Passivierungen und Farbtöne, zählt Haberfellner auf. Mittels Versiegelungen mit Reibwerten können Einschraubwerte, Warmlöseverhalten und Übergangswiderstände eingestellt werden. Da im Automobilbereich heute überwiegend höherfeste Leichtbauteile zum Einsatz kommen, um das Gewicht von Fahrzeugen und damit ihren Energieverbrauch zu senken, spielt hier zunehmend auch die Wasserstoffversprödung eine Rolle. Eine Entwicklung, auf die Schlötter schon seit mehreren Jahren reagiert. Ein neuer Prüfstand kann Werkstoffbeschädigungen durch Wasserstoff heute in zwei Minuten statt wie früher in rund 144 Stunden ermitteln. Ein gewaltiger Entwicklungssprung, der etwa dabei hilft, neue Beizinhibitoren ins Leben zu rufen, die das Risiko der Wasserstoffversprödung senken. Darüber hinaus sind bei funktionalen Oberflächen besonders Zinn- und Zinnlegierungen sowie Silbergrafitbeschichtungen, auch für Hochtemperaturanwendungen, im Trend. Grundsätzlich stehen heute funktionale Oberflächen deutlich stärker im Fokus als in der Vergangenheit. Dekorative Oberflächen wie z. B. glanzverzinnte Oberflächen im Haushaltsgerätebereich sowie glanzversilberte Bestecke sind dagegen schon länger passé, auch der Bereich POP (Plating on Plastics) verliert Marktanteile. Immer wichtiger wird die Metallisierung 3D-gedruckter Bauteile (beachten Sie auch den Schwerpunktartikel von Wolfgang Hansal in diesem Heft), worauf Schlötter mit verschiedenen neuen Verfahren reagiert.
Herausforderung Anlagenbau
Weiteres Standbein des Geschäfts bei Schlötter ist der Anlagenbau für Galvaniken. Der Anteil an den Umsätzen beträgt rund 10 Prozent. Die Anlagenfertigung wird künftig komplett von Schlötter Schweden übernommen. Es gibt taktgesteuerte und freilaufende bzw. programmierbare Anlagen. In taktgesteuerte Anlagen fährt ein Warenträger hinein, während ein anderer herauskommt, was eine effiziente, übersichtliche Fertigung gewährleistet. Freilaufende Anlagen ermöglichen es dem Bediener dagegen, zahlreiche unterschiedliche Produkte mit ganz verschiedenen Schichtkombinationen und Vor- und Nachbehandlungen in einen Speicher zu nehmen – „die Anlagensteuerung optimiert dann die Abläufe“, erklärt Dr. Zöllinger. Hier ist große Flexibilität und ein Mischbetrieb möglich. Doch wohin geht die Reise bei modernen Anlagensteuerungen angesichts des Aufkommens neuer Technologien wie Augmented Reality, Predictive Maintenance oder Ausschussreduktion mittels Maschinenlernen und künstlicher Intelligenz? Das ist noch nicht abschließend geklärt, räumt Dr. Zöllinger ein. Die strategische und technologische Ausrichtung soll aber bis zum Ende des Jahres stehen.
Global Player mit Bodenhaftung
Ebenso wichtig wie Weichenstellungen in diesem Bereich ist es, den Weg von Wirtschaft und Industrie in Richtung Klimaneutralität mitzugehen und mitzugestalten. Auch auf Wunsch von Kunden entstand schon vor Längerem eine Software, die den CO2-Fußabdruck der Produkte darstellt und dokumentiert. Auf der bedeutenden Leiterplatten-Show TPCA in Taipeh im vergangenen Jahr kamen diese Programme sehr gut an.
Grundsätzlich haben sich die Geislinger das Ziel gesetzt, Klimaneutralität bis 2032 zu erreichen, ebenso eine möglichst große Unabhängigkeit bei der Versorgung mit Chemikalien und anderen Rohstoffen. Mit Blick auf die Zukunft spielt auch das Recycling von Transportgebinden und von Metallen aus galvanischen Bädern im Rahmen der Nachhaltigkeit eine Rolle. Der ehemalige Musterschüler Deutschland ist bei hohen Umweltstandards und der nachhaltigen Nutzung von Chemikalien übrigens längst nicht mehr allein, wie Thomas Haberfellner bemerkt: Länder wie Italien, China und die USA holen zunehmend auf.
Die Welt ist in Bewegung – und mittendrin der Mittelständler Schlötter, von dessen kontinuierlichem Erfolg rund 1000 Menschen und mehr direkt abhängen. Gesellschafterin Dr. Stefanie Geldbach repräsentiert gemeinsam mit ihrem Bruder Dr. Tilmann Geldbach die Familie in der Geschäftsführung. Sie setzt auf bescheidenes Auftreten und den möglichst persönlichen Umgang mit den Mitarbeitern, dem „Charme eines Familienunternehmens“, wie sie sagt. Bei aller internationaler Verflechtung und wirtschaftlichen Turbulenzen behält Schlötter so die Bodenhaftung. Ein Erfolgsrezept, das sich nun schon 112 Jahre bewährt hat.
ZUR INFO
Dr.-Ing. Max Schlötter GmbH & Co. KG
- Gründung: 1912 in Leipzig
- Mitarbeiterzahl: 190 in Deutschland, 330 weltweit
- Umsatz: 50 Millionen Euro in Deutschland, 105 Millionen insgesamt
- Ausbildungsberufe: Chemielaborant/in, Chemikant/in, Oberflächenbeschichter/in, Industriekaufleute, Lagerlogistiker/in
- Investitionen: Minimum 5-10 Prozent in die Infrastruktur (ohne F&E)
- Standorte: Geislingen/Steige (Hauptzentrale), England (Lack- und Elektrolytherstellung), Irland (Lohnfertigung), Schweden (Anlagenbau), Singapur, China, Taiwan
Fotos: Robert Piterek