Im Gegenteil! Sehen mit zwei Augen

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Etuaptmumk ist ein für Europäer schwer auszusprechendes Wort, das zur Sprache der Mi´kmaq-Nation gehört, die im östlichen Nordamerika zu finden ist, genauer im kanadischen Nova Scotia. „Etuaptmumk“ bedeutet „zweiäugiges Sehen“, und der dazugehörige Gedanke möchte ermutigen, mit einem Auge die Stärken des Wissens zu nutzen, über das Indigene wie die Tuareg in Algerien oder die Mi´kmaq in Amerika verfügen, und mit dem anderen Auge die Qualitäten des Wissens zu erfassen, das mit westlichen Traditionen erworben worden ist.

Das in England produzierte Magazin „Nature“ hat in seiner Ausgabe vom 6.2.2025 dem „Two-Eyed Seeing“ viele Seiten eingeräumt, um „Indigene Perspektiven für die Neurowissenschaften“ aufzuzeigen. Der Aufsatz in „Nature“ möchte zum Verständnis des menschlichen Gehirns und seines Geistes („mind“) beitragen und versuchen, das zweiäugige Sehen zur Kommunikation mit der Öffentlichkeit zu nutzen und auf die mentale Gesundheit mit den beiden Augen zu schauen, die gewöhnlich als Reduktionismus und Holismus unterschieden werden. „Der Teil und das Ganze“ also, wobei diese Worte in Anführungszeichen stehen, weil die Autobiographie des Physikers Werner Heisenberg so heißt, dem vor 100 Jahren der entscheidende Schritt zur Quantenmechanik gelungen ist, die ein besonderes zweiäugiges Sehen notwendig macht, da das Licht nicht nur als Welle, sondern auch als Teilchen betrachtet werden muss.

» Ungewissheit bereitet der Wissenschaft Unbehagen «

Das zweiäugige Sehen veredelt die Quantenphysik mit dem philosophischen Begriff der Komplementarität, der Gegenteile erfasst, die sich oberflächlich widersprechen, während sie in der Tiefe zusammenhängen. So etwas ist seit der Epoche der Romantik bekannt, in der Menschen lernten, mit ihren inneren Augen tiefer als mit den Fensterlein im Kopf zu sehen, und das zweiäugige Sehen stellt zudem die Wahrheit, die das Herz wärmt, der Wahrheit gegenüber, die den Weg weist. Es ist doch keine Frage, dass es neben dem Expertenwissen mit seinen theoretischen Begründungen immer auch das gegenteilige indigene Vermögen mit seinen ästhetischen Reizen gegeben hat und geben sollte. Der erwähnte Aufsatz über „Etuaptmumk“ in „Nature“ erwähnt die Notwendigkeit zur Demut oder Bescheidenheit in der westlichen Wissenschaft. Da braucht sich niemand zu sorgen. Sie steckt voller Unbehagen und Unruhe, weil sie nicht sieht, was als Nächstes auf die Menschen zukommt. Das zweiäugige Sehen wird diese ontologische Unsicherheit nicht ausräumen. Eher im Gegenteil.

  • Ausgabe: Oktober
  • Jahr: 2025
  • Autoren: Ernst Peter Fischer
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