Im Gegenteil! Wissen, was man wissen will

Brain - (Bild: Pixabay.com/hainguyenrp)
  • Titelbild: Brain - (Bild: Pixabay.com/hainguyenrp)

Zu den am meisten zitierten Sätzen des Abendlandes gehört die Bemerkung des großen Philosophen Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, wobei man nicht so genau weiß, ob man die aus dem etwas umständlich formulierten griechischen Originalsatz verdichtete Weisheit nicht besser mit „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ übersetzen müsste.

»Formulierung des Sokrates-Zitats ist widersprüchlich«

Mir persönlich fällt an dem berühmten Diktum auf, dass in seiner Formulierung ein Widerspruch in dem Sinne enthalten ist, dass Sokrates trotz allen Abstreitens auf jeden Fall etwas weiß. Er weiß, dass er den Willen hat, etwas wissen zu wollen, und bei seinen Bemühungen darum muss ihm aufgefallen sein, was er alles noch nicht weiß und dass ihn das weiter fragen lässt. Es wäre doch höchst ermutigend zu sagen: „Ich weiß, was ich nicht weiß“, weil damit die Richtung des Suchens festliegt und man sich auf den richtigen Weg machen kann. Wer naturwissenschaftliche Fachzeitschriften anschaut, kann diesen allgemeinen Satz in vielen konkreten Variationen finden, von denen ich einige aufzählen will. Sie stammen alle aus dem November 2024, aber man kann sie zu fast jeder Jahreszeit finden.

Hier einige Beispiele aus dem führenden Wissenschaftsjournal „Nature“:

Schweizer Biologen interessieren sich dafür, wie sich Organismen aus einer einzelligen Zygote zu einem vielzelligen Lebewesen entwickeln. Sie sind sicher, dass es dazu einer Reihe von präzise orchestrierten Prozessen bedarf, und begründen ihre Arbeit mit dem Satz, dass sich die evolutionären Ursprünge dieser Vorgänge dem Wissen weitgehend entziehen. Amerikanische Neurobiologen haben die Rolle einiger Hirnregionen – unter anderem die des Hippocampus – untersucht, die ihnen beim Lernen zukommt, und dabei gemerkt, dass ihnen die dynamischen Charakteristiken der zellulären Entwicklung vollkommen rätselhaft bleiben. Belgische Genetiker haben untersucht, wie Bakterien mit bestimmten Toxinen zur Entstehung von Dickdarmkrebs beitragen, um zuletzt festzustellen, dass sie keinen Schimmer haben, wie die gefährlichen Moleküle in die Zellen gelangen, die sie karzinogen werden lassen.

Die Reihe der aufgeführten Beispiele zeigt, dass in der Forschung das Gegenteil von dem zutrifft, was Sokrates gesagt haben soll. Die heutige Wissenschaft weiß sehr wohl etwas. Sie weiß genau, was sie wissen will. Sie weiß aber auch, dass sie danach nicht alles weiß, sondern nur genauer sagen kann, was sie als nächstes wissen will. Eine unendliche Geschichte.



  • Ausgabe: Juli
  • Jahr: 2025
  • Autoren: Ernst Peter Fischer
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