Der glimpflichste Unfall ist der, der erst gar nicht passiert. Um diesen Idealzustand zu erreichen, bedarf es jedoch einer ausgeprägten Präventionskultur. Und die ist vor allem eines: Chefsache.
Die World Health Organization (WHO) hat schon im Jahr 2014 Prävention definiert als „Schutz und Stärkung der Gesundheit der Beschäftigten von Unternehmen, deren vollständiges körperliches geistiges und soziales Wohlergehen – und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen körperlicher und geistiger Art.“
Experten sprechen bei dieser Definition von einer so genannten positiven Psychologie. Weil man sich wissenschaftlich mit der Frage beschäftigt, wie Wohlergehen und persönliche Entwicklung Einzelner im Unternehmen gefördert werden können.
Arbeitsforscher wie Frederick Winslow Taylor oder Frank Bunker Gilbreth, in Deutschland zuvorderst der Sozialökonom Max Weber, hatten schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert herausgefunden, dass es vor allem die soziale Anerkennung und nicht das Geld ist, das Arbeitnehmer zu guten und engagierten Arbeitnehmern macht. Zur sozialen Anerkennung gehören jedoch nicht nur Wertschätzung, Anteilnahme und Lob durch den Arbeitgeber, sondern vor allem auch ein Arbeitsumfeld, das dem Beschäftigten signalisiert, dass er etwas wert ist. Im Idealzustand wird die Arbeitsumgebung Folgendes bewirken:
- Eine starke Bindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer schaffen
- Den Arbeitnehmer motivieren
- Positive Empfindungen wecken
- Der Arbeit Sinn geben
- Erfolge und auch Misserfolge als gemeinsames Ergebnis darstellen
Das bisher Gesagte mag beim Leser den Eindruck wecken, dass es vor allem flexible Arbeitszeitmodelle, ein gemütlicher Pausenraum oder leckeres Kantinenessen sind, die zur Sicherheit im Unternehmen beitragen, das aber ist zu kurz gedacht.
Auch und vor allem der Umstand, dass der Chef (oder andere Vorgesetzte) auf die Sicherheit der Schutzbefohlenen achtet, signalisiert Wertschätzung. Umgekehrt ist es ein vitales Interesse des Unternehmens, die Arbeitsleistung und Gesundheit der Belegschaft zu erhalten. Betriebliche Prävention bedeutet also nicht nur, persönliche Schutzausrüstungen der Luxusklasse bereitzuhalten, ausreichend beleuchtete Fluchtwege auszuweisen oder den Arbeitnehmer regelmäßig zu Sicherheitsschulungen zu schicken. Prävention beginnt schon weit im Vorfeld. Konkret etwa durch Angebote zur Erhaltung der körperlichen Fitness, psychologische Angebote, sozialen Zusammenhalt.
Prävention muss vor allem von der Führung gelebt werden
Grundsätzlich ist mit Führung in diesem Zusammenhang nicht nur der Firmeninhaber, ein Geschäftsführer oder Abteilungsleiter gemeint. Führungskräfte sind oft nicht an einem Titel, einer Position festzumachen. Führungskräfte sind in sozialer Hinsicht beispielsweise auch besonders beliebte Kollegen, langjährig im Betrieb Beschäftigte oder überdurchschnittlich kompetente Personen. An jenen richten sich Arbeitsgemeinschaften oft genauso aus, wie an hierarchisch gesetzten offiziellen Personen. Wer auch immer als Führungsperson gilt, alle sind eingeladen, an Präventionskonzepten mitzuarbeiten. Wichtig sind dabei die Themengebiete Führung, Beteiligung, Betriebsklima, Kommunikation und vor allem Fehlerkultur. Besonders Letzteres ist in puncto Prävention von entscheidender Bedeutung. Wie wichtig Fehlerkultur ist, zeigt eine Geschichte aus der Praxis des Flugverkehrs. Bei der Lufthansa gibt es eine firmenintern Beichtgeheimnis genannte Einrichtung. Jeder Mitarbeiter kann zu einer speziell eingerichteten Stelle gehen und Fehler, die er gemacht oder anderweitig bemerkt hat, anzeigen. Und zwar ohne, dass danach jemand Konsequenzen zu befürchten hätte.
Es ist Lufthansapiloten beispielsweise verboten, durch Gewitterzellen zu fliegen. Innerhalb der Wolkenberge herrschen gewaltige Kräfte. Auf- und Abwinde, Temperaturstürze, Regen- und Hagelmassen u. v. m. gefährden Mensch und Maschine. Auf dem Weg von Südamerika nach Europa flog die Besatzung eines Airbus, um eine Verspätung aufzuholen, trotzdem durch eine solche Zelle. Die Verfehlung hatte zum Glück keine sicherheitsrelevanten Folgen. Das hätte jedoch durchaus der Fall sein können. Denn die Piloten stellten fest, dass die Geschwindigkeitsmesser unter diesen extremen Voraussetzungen vereisten. Sie beichteten ihre Verfehlung und die Lufthansa untersuchte die Geschwindigkeitsmesser – was die Erfahrung der Piloten bestätigte.
Die Airline meldete die Ergebnisse daraufhin sowohl an Airbus als auch an alle anderen Fluglinien. Die meisten tauschten daraufhin die Geschwindigkeitsmesser gegen andere Modelle aus. Nicht so jedoch Air France. Einige Wochen später trat das Horrorszenario ein. Auf derselben Strecke über dem Südatlantik vereisten die Geschwindigkeitsmesser eines Airbus von Air France in einer Gewitterzelle und der Flieger stürzte ab.
Der Vorfall zeigt, wie wichtig es ist, Fehler zuzugeben und anschließend zu beheben. Offene Worte, ohne Angst vor Konsequenzen haben zu müssen, tragen zur Sicherheit bei. Gepaart mit dem gelebten Bekenntnis zur Sicherheit aller Beteiligten jeglicher Hierarchieebenen hat man die halbe Miete bereits zusammen. Den Rest machen Trainings, Übungen, Erarbeiten von Regeln und Verhaltensmaßnahmen aus. Ein Grundsatz gilt jedoch immer. Der Chef bzw. die Chefs müssen das Bekenntnis zur Unfallverhütung aktiv vorleben.
Drei Herangehensweisen rahmen die Maßnahmen
Herangehensweise 1:
Zunächst einmal nehmen zwei Größen Einfluss auf die betriebliche Sicherheit. Nämlich die externen Größen und die internen Größen.
Die externen Einflüsse werden von Ämtern, Verbänden, dem Gesetzgeber und einem Regelwerk aus Gesetzen und z. B. (Verwaltungs-) Vorschriften gesetzt. Die internen Einflüsse gehen erheblich weiter. Sie spezifizieren die externen Normen auf den individuellen Fingerabdruck des Unternehmens. Oder anders ausgedrückt: Externe Einflussgrößen sind geprägt durch den Dialog mit externen Partnern aus externen Organisationen unter Zuhilfenahme eines Regelwerks. Interne Herangehensweisen binden interne Fachleute (und damit Kenner der internen Situation) ein, nutzen ihren Erfahrungshorizont.
Herangehensweise 2:
Das Unternehmen kann sich nun vollständig auf die internen Fachkräfte und ihre Kompetenz verlassen. Diese Fachkräfte definieren die Gefährdungsstandards und entwerfen mögliche Lösungen. In diesem Fall sprechen wir von der kompetenzbezogenen Gefährdungswahrnehmung.
Möglich ist und praktiziert wird auch die sogenannte fragmentarische Gefährdungswahrnehmung. Hier konzentriert sich das Unternehmen auf Wahrscheinlichkeiten. So ist es zum Beispiel in einer Galvanik eher wahrscheinlich, dass es zu einem Chemieunfall kommt oder zu einem Brand, als beispielsweise zu einem Wasserschaden. Darauf werden Sicherheitskonzepte vorwiegend ausgerichtet.
Die höchste Gefährdungswahrnehmung nimmt alle möglichen und auch unmöglichen Gefahrenquellen wahr und verarbeitet diese Wahrnehmungen ständig in neuen Sicherheitskonzepten. Alle Mitarbeiter sind ständig auf dem neuesten Stand und leben die Philosophie, auch unmöglich scheinende Gefahren zu vermeiden. Man spricht in diesem Fall deshalb von der umfassenden Gefährdungswahrnehmung.
Herangehensweise 3:
Alle Faktoren, die die Sicherheit gefährden oder fördern könnten, werden von allen ständig beobachtet, trainiert und gegebenenfalls gefördert oder infrage gestellt. Es geht hier um technische Aspekte, Verhaltensmaßnahmen, Schulungen, Trainings, psychologische Gegebenheiten und vieles mehr. Auch die Gesundheitsförderung der Mitarbeiter spielt in dieser höchsten Ausprägung eines Präventionssystems eine wichtige Rolle.
In jedem denkbaren Fall jedoch steht die Führungskraft, der Boss, im Zentrum des Geschehens. Er hat eine Vorbildfunktion gegenüber seinen Mitarbeitern einzunehmen. Er bestimmt, welche Standards in seinem Unternehmen bzw. innerhalb seiner Gruppe zu gelten haben.
Die Vorbildfunktion des Chefs
Vorbild kann nur sein, wer sich selbst erkennt und an sich arbeitet. Chefs, die ihre Mitarbeiter zu irgend etwas anhalten und dem dann selbst zuwider handeln, werden unglaubwürdig. Beispiele in der Praxis des Arbeitsalltages gibt es genug: Das Credo des Vorgesetzten, gesund zu leben – und selbst zu rauchen und zu trinken. Die Forderung an erkältete Mitarbeiter, zu Hause zu bleiben, um andere nicht anzustecken. Aber dann selbst mit Husten und Schnupfen die Viren in den Betrieb tragen. Eine individuelle Work-Life-Balance zu fordern, um sich selbst dann durch Überstunden und Wochenendarbeit auszubeuten. Am Galvanikbad Schutzbrillen vorzuschreiben, um später selbst ohne Schutzbrille dort aufzutauchen.
Das Arbeitsklima
Noch immer stark unterschätzt wird die Rolle des Betriebs- bzw. des Gruppenklimas in der Prävention. Dabei ist ein positiver und respektvoller Umgang miteinander einer der Stützpfeiler betrieblicher Sicherheit. Teamarbeit in seiner positivsten Ausprägung vermeidet Fehler. Weniger Fehler führen zu sichereren Prozessen.
Führungspersonal kann auf das Betriebsklima positiv einwirken. Stichwörter dazu sind Gerechtigkeit, demokratischer Führungsstil, Förderung angstfreier Meinungsäußerung und auch das Eingestehen eigener Schwächen. Insgesamt ist ein gutes Betriebsklima ein entlastender Faktor im Berufsalltag aller Beteiligten. Keiner muss dem anderen etwas vormachen, jeder kennt die Stärken und Schwächen der Kollegen und die eigenen.
Kosten und Zeit
Wer seinen Mitarbeitern den Wert von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz glaubwürdig vermitteln will, dokumentiert das auch durch Investitionen. Also vor allem durch Einsatz von Geld, von Mühe und von Zeit. Es hat zum Beispiel Signalwirkung, wenn jeder neue Mitarbeiter vor dem eigentlichen Arbeitsbeginn in das Sicherheits- und Gesundheitskonzept des Unternehmens eingewiesen wird. Wenn er gleich entsprechende Trainings absolvieren muss, eventuell zunächst auf einen Sicherheitslehrgang geschickt wird.
Signalwirkung hat auch, wenn der Chef darauf besteht, dass dem sichereren Arbeitsprozess der Vorzug vor dem schnellen Arbeitsprozess gegeben wird. Oder dass er auch in terminlich engen Situationen auf den Mindestruhezeiten und maximal zulässigen Arbeitsstunden beharrt.
Dass sich Prävention am Arbeitsplatz nicht zuletzt auch für das Unternehmen lohnt, beweist eine Zahl, die die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) bereits 2013 im Rahmen einer Studie ermittelt hat. In einem Unternehmen mit hohem Sicherheits- und Gesundheitsbewusstsein bringt jeder in die betriebliche Prävention investierte Euro 2,20 Euro zurück. Eine Rendite, die man mit Bankanlagen heute längst nicht mehr erzielt.