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Montag, 04 Dezember 2023 10:59

Digitaler Zwilling für zuverlässigere Elektronik – Framework für die Zustandsüberwachung komplexer elektronischer Systeme auf Basis des Functional Mock-up Interfaces

von Mariam Elsotohy, Johannes Jaeschke, Frederic Sehr
Geschätzte Lesezeit: 5 - 9 Minuten
Digitaler Zwilling für zuverlässigere Elektronik – Framework für die Zustandsüberwachung komplexer elektronischer Systeme auf Basis des Functional Mock-up Interfaces Bild: AdobeStock

Mit Grey-Box-Modellen können in Zukunft etwaige Verschleißerscheinungen oder Manipulationen in elektronischen Systemen frühzeitig erkannt werden, bevor es zu einem Ausfall kommt. Erstmals ausgearbeitet und getestet wird das neue Verfahren am Beispiel von sicherheitskritischen Anwendungen im Automobil- und Bahnbereich. Das Grundprinzip lässt sich aber auch auf viele weitere Einsatzgebiete übertragen.

In the future, grey box models will make it possible to detect any signs of wear or manipulation in electronic systems at an early stage before an actual failure occurs. The new method is being developed and tested for the first time using the example of safety-critical applications in the automotive and rail sectors. However, the basic principle can also be transferred to many other areas of application.

Einleitung

Die Zuverlässigkeit gehört seit jeher zu den wichtigsten Kriterien in der Automobil- und Bahntechnik, insbesondere bei zunehmender Systemkomplexität, die mehrere physikalische Teilsysteme umfasst. Diese hohe Komplexität begünstigt die Anfälligkeit des Entwurfsprozesses für Fehler, die als große Bedrohung für zuverlässige Systeme angesehen werden. Der Ausfall einer einzigen Komponente oder eines Teilsystems kann katastrophale Folgen haben. Darüber hinaus stellen die zeitaufwändige Entwicklung, die viele Iterationen erfordert sowie die damit verbundenen Kosten große Einschränkungen dar, wenn es um die Beschreibung komplexer dynamischer Systeme geht. Modellierung und Simulation werden somit immer wichtiger, um prognostische Ansätze für die Abschätzung der Degradation bzw. des End-of-Life zu implementieren.

Modellbasierte Prognoseansätze beruhen auf physikalischen Modellen, die die Beziehungen zwischen äußeren Belastungen, dem Systemverhalten und den Komponenten beschreiben. Diese Modelle müssen die verschiedenen Schädigungsprozesse berücksichtigen, die gleichzeitig in einem Bauteil auftreten. Jeder dieser Schädigungs- und Verschleißprozesse trägt zur Gesamtdegradation des Systems bei. Zudem nutzen modellbasierte Prognoseansätze domänenspezifisches Wissen über ein System, seine Komponenten und Ausfallursachen bzw. -modi durch den Einsatz physikalisch basierter Modelle, die die zugrunde liegenden physikalischen Phänomene erfassen.

Ein zunehmend an Bedeutung gewinnender Begriff auf dem Gebiet der Simulation physikalischer Systeme ist das Konzept des ‚Digitalen Zwillings'. Dabei handelt es sich um eine digitale Darstellungs- und Modellierungsmethode, mit der der Lebenszyklus komplexer elektronischer Systeme und Prozesse erweitert und verbessert werden kann. Die Technologie des digitalen Zwillings ist derzeit weltweit zu einem wichtigen Forschungsgebiet geworden. Digitale Zwillinge können ebenfalls zur Überwachung von Ermüdung, Anomalien, Deformationen sowie des Zuverlässigkeitsverhaltens von Systemen unter externen Belastungen eingesetzt werden, indem ein digitaler Fingerabdruck erstellt wird, der proaktiv auf alterungsbedingten Verschleiß und sicherheitskritische Veränderungen reagiert. Die Modellierung eines digitalen Zwillings erfordert ein umfassendes Verständnis für das gesamte System sowie die Verwendung dynamisch zusammengesetzter Modelle, die aus individuellen Komponentenmodellen bestehen. Die Modellierung muss zudem in einem angemessenen Detaillierungsgrad erfolgen, um eine genaue Darstellung der digitalen Zwillinge und zuverlässiger Simulationsergebnisse zu erhalten. Zu berücksichtigen ist weiterhin der Faktor, dass der Prozess der Erstellung digitaler Zwillinge einen kontinuierlichen Optimierungsprozess durchläuft, um verschiedene Entwicklungsstufen zu erreichen und das Risikoniveau zu senken. Gleichzeitig können das Systemverhalten im Feld und die Simulationsergebnisse analysiert und zur Überprüfung und Verbesserung sowohl des virtuellen Modells, als auch des realen Systems verwendet werden.

Um die Submodelle des digitalen Zwillings zu koppeln und zu simulieren, ist es aufgrund der vielfältigen Anwendungsbereiche und der großen Anzahl unterschiedlicher Entwicklungsaufgaben unumgänglich, verschiedene spezialisierte Werkzeuge für die Modellierung in den jeweiligen Disziplinen einzusetzen. Die Integration verschiedener Werkzeuge in eine gemeinsame Simulationsumgebung kann zu Problemen hinsichtlich der Datenkompatibilität und der Softwareanbindung führen. Der Functional Mock-up Interface (FMI)-Standard bildet daher eine solide Grundlage für diese Problematik und ist im Automotive-Bereich sehr bekannt.

Am Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM) werden im Rahmen des öffentlich geförderten Projektes SesiM (Selbstvalidierung komplexer elektronischer Systeme in sicherheitskritischen Mobilitätsanwendungen auf Basis von Greybox-Modellen) Ansätze für die Multidomänen-Systemmodellierung zur Bewertung des Degradationsverhaltens des Systems im Feld unter externen Belastungen entwickelt. Zu den Ansätzen gehört ein Mission Profile-basierter Multidomain-Modellierungsansatz zur Bewertung elektronischer Systeme und deren Degradationsverhalten. Dieser Ansatz dient der Implementierung digitaler Zwillinge durch die Erstellung von Functional Mock-up Units (FMUs) der einzelnen Domänen aus verschiedenen Simulationswerkzeugen mit Hilfe der FMI-Toolbox, die innerhalb einer digitalen Zwillingssimulationsplattform (wie Modelica, Matlab/Simulink oder Ansys Twin Builder) nur auf der Grundlage ihrer Eingangs- und Ausgangsparameter und ohne Abhängigkeit von ihrer internen Struktur gekoppelt und simuliert werden können, vergleichbar mit einer Blackbox (Abb. 1).

Abb. 1: Grafische Darstellung für die Erstellung digitaler Zwillinge für Multidomain-Systeme mit FMIAbb. 1: Grafische Darstellung für die Erstellung digitaler Zwillinge für Multidomain-Systeme mit FMI

Konzept

Das Multidomain-Simulationskonzept verwendet zur Demonstration eine Brückengleichrichter-Schaltung, bei der die Sperrschichttemperatur als Hauptstressor betrachtet wird, der zu einer thermischen Degradation des Brückengleichrichter-Packages sowie der Aufbau- und Verbindungstechnik führt. In diesem Zusammenhang wird das Verhalten der Sperrschichttemperatur bestimmt, indem die Schaltung einem Einsatzprofil unterzogen wird, das externen thermischen und elektrischen Belastungen ausgesetzt wird. Die Informationen des Einsatzprofils werden anschließend in das aus Modelica generierte FMU-Modell eingespeist, um parametrische Studien durchführen zu können. Außerdem wird die Simulation in Python durchgeführt und automatisiert, indem die Python-Bibliothek zur Simulation von FMU-Modellen, FMPy, verwendet wird (Abb. 2).

Abb. 2: Workflow der Mission Profile-basierten Berechnung der Sperrschichttemperaturprofile des BrückengleichrichtersAbb. 2: Workflow der Mission Profile-basierten Berechnung der Sperrschichttemperaturprofile des Brückengleichrichters

Dieser Ansatz zielt auf die Erstellung eines digitalen Zwillings ab, der proaktiv auf altersbedingte Veränderungen oder Anomalien im Verhalten des elektronischen Systems reagiert.

Bei der demonstrierten Methode, die auf die Beispielschaltung angewandt wurde, wurden die folgenden Techniken eingesetzt:

  1. Ableitung der möglichen Umgebungstemperatur-Einsatzprofile, denen der Brückengleichrichter während des Betriebs für Automobilanwendungen ausgesetzt sein kann
  2. Multidomänen-Verhaltensmodellierung des Brückengleichrichters unter Verwendung des FMI-Standards, wobei der Brückengleichrichter als Blackbox betrachtet wird
  3. Co-Simulation des Sperrschichttemperaturprofils des Brückengleichrichters in Python mit Hilfe des FMU-Modells, das aus der Modelica-Implementierung des elektrischen und thermischen Verhaltensmodells generiert wurde
  4. Durchführung automatisierter, zeiteffizienter und parametrischer Studien unter Variation der Umgebungstemperatur, jedoch unter konstanter elektrischer Last in Python

Die Multi-Domain-Verhaltensmodellierung mit dem FMI-Standard hat bewiesen, dass sie in der Lage ist, verschiedene physikalische Domänen, nämlich thermische und elektrische Domänen, in einer Open-Source-Umgebung zu koppeln sowie zu simulieren. Die Methodik war außerdem in der Lage, zeiteffiziente, automatisierte und parametrische Studien durchzuführen und gleichzeitig die Ergebnisse als *.csv zu speichern.

Zur Validierung der simulierten Sperrschichttemperatur des Brückengleichrichters bei variierenden Umgebungstemperaturen und elektrischen Lasten wurde ein Temperaturstufentest von -40 °C bis 150 °C durchgeführt. Die Simulationsergebnisse zeigen eine gute Korrelation mit den Testergebnissen (Abb. 3). Darüber hinaus werden in zukünftigen Arbeiten passive Temperaturwechseltests durchgeführt, um festzustellen, ob die charakteristischen Kennlinien der Diode als gültige schädigungs- bzw. degradationsempfindliche Parameter betrachtet werden können.

Abb. 3: Test- und Simulationsergebnisse der Sperrschichttemperaturen des Brückengleichrichters bei 20 °C im AusgangszustandAbb. 3: Test- und Simulationsergebnisse der Sperrschichttemperaturen des Brückengleichrichters bei 20 °C im Ausgangszustand

Fazit

Insgesamt kann die vorgeschlagene simulationsbasierte Methodik der digitalen Zwillinge für verschiedene Fehlermechanismen unterschiedlicher Systemkomplexitätsstufen angepasst werden. Diese Techniken sind für die Bereitstellung von Inputs für Analysesysteme nützlich, die die vorausschauende Wartung kritischer Teilsysteme unterstützen, insbesondere unter anormalen Betriebsbedingungen oder bei Manipulationen.

Der vorgestellte Ansatz lässt sich auf komplexere Systeme anwenden, bei denen mehr als zwei Domänen gekoppelt werden müssen, z. B. die thermomechanische und die elektrische Domäne, um verschiedene Softwaretools oder Simulationsmodelle zu koppeln und so einen vollständigen digitalen Zwilling des physischen Systems zu erstellen. Für die Kopplung verschiedener Simulationsmodelle oder -software mit höherem Komplexitätsgrad stehen mehrere Methoden zur Verfügung, insbesondere wenn das Systemverhalten unter Berücksichtigung von mehr als einem Fehlermechanismus oder physikalischen Domänen beschrieben werden muss. Methoden der Modellreduktion (engl.: Model Order Reduction) oder der Metadatenmodellierung können z. B. auf FEM-Modelle angewandt werden, die eine genaue Darstellung ermöglichen, wie bestimmte Domänen die Degradation verschiedener Materialien beeinflussen. Diese Modelle können als FMU-Modelle exportiert und in eine objektorientierte Schaltungssimulationsplattform importiert und mit anderen verschiedenen Domänen für die virtuelle Zustandsüberwachung des Systemverhaltens während der Betriebszeit gekoppelt werden.

Die Steuerung des Datentransfers zwischen den Modellen kann durch die Implementierung eines Master-Slave-Algorithmus erfolgen und führt folglich zu einer effizienten, weniger zeitaufwändigen Simulation. Bei höherer Systemkomplexität muss zudem der Datentransport zwischen den FMU-Modellen durch Modellaustausch oder Co-Simulation intensiv betrachtet werden.

Literatur

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Weitere Informationen

  • Ausgabe: 11
  • Jahr: 2023
  • Autoren: Mariam Elsotohy, Johannes Jaeschke, Frederic Sehr (Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration)

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