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Dienstag, 06 Februar 2024 10:59

Kolumne Anders gesehen – Vom Regen in die Traufe

von
Geschätzte Lesezeit: 4 - 7 Minuten
Falsch kalkuliert oder einfach nur Pech gehabt? Falsch kalkuliert oder einfach nur Pech gehabt? Busch, Wilhelm :1861 (Fliegende Blätter Nr. 824/Seite 125)

So sah es Wilhelm Busch in einer berühmten Karikatur, obgleich eine ‚Traufe’ hier nicht dargestellt ist. Aber der Grundgedanke wird effektiv vermittelt, denn wie so oft kehrt sich das Schicksal gegen die Superschlauen. Warum hat die EU trotz vehementer Proteste der Elektronikindustrie eine Richtlinie durchgedrückt, die Blei in den meisten Loten verbot? Obgleich es keinen Hinweis darauf gab, dass es in irgendeiner Weise – speziell in der EU – zu Problemen führte, da sich eine Rückgewinnung bereits gut eingespielt hatte? Das gibt bis heute einen Schwall von Rätseln auf.

Vom Regen in die Traufe kam die Elektronikindustrie durch das Verbot von Zinn-Blei-LotenVom Regen in die Traufe kam die Elektronikindustrie durch das Verbot von Zinn-Blei-LotenVoll durchdacht war es sicherlich nicht, denn plötzlich zeigten sich eine Reihe von Problemen, die auch bis heute noch nicht voll gelöst sind. Neben den steigenden Kosten, teurer und seltener Metallzugaben wegen, dem höheren Verbrauch an Energie dank des höheren Schmelzpunkts der bleifreien Lote und den Problemen bei der Umstellung, beschweren sich gerade wichtige Branchen, wie etwa die Weltraumforschung über Zuverlässigkeitsprobleme.

Der Klagen sind recht viele, wie etwa die Tatsache, dass bleifreie Lote schlechtere Benetzungseigenschaften als Zinn-Blei-Lote hätten, was das Risiko von Lötfehlern erhöht. Das stimmt eingeschränkt, denn es ist weitgehend temperaturabhängig. Die Übertemperatur bei Bleiloten ist weit größer als bei bleifreien. Aber Bauteile, Leiterplatten und Flussmittel erlauben eben keine weitere Anhebung.

Vermehrtes Auftreten von sogenannten Haarkristallen (inzwischen auf gut Deutsch als Zinn-Whisker bekannt), wird ebenfalls bemängelt. Diese ‚Whisker’ sind dünne zylindrische Filamente und erweisen sich als spröde. Es besteht die Befürchtung – und das wurde eben in Satelliten Galaxy IV) als Ursache des Ausfalls identifiziert –, dass sie abbrechen und so elektrischen Kurzschlüsse verursachen. Übrigens verstärken Druckspannungen das Entstehen von Zinn-Whiskern.

Zwar gibt es eine Reihe von Empfehlungen, was man gegen diese bösen Schlingel unternehmen kann. Aber das sind Heftpflaster, denn es gibt kein absolutes Rezept zur Vermeidung von Zinn-Whiskern bei bleifreien Loten. Prinzipiell wird dieses Phänomen eben nicht vollständig verstanden. Die vielen Versuchsanordnungen zeigen wie man Zinn-Whisker sogar geplant züchten kann: mittels Temperaturzyklen und auch bei konstanter Temperatur/Feuchtigkeit.

Nicht sofort nach dem Lötvorgang, aber zeitlich verschoben sind bei bleifreien Verbindungen oft vermehrt Kirkendall-Hohlräume [1] nachweisbar. Sie entstehen durch Diffusion eines Metalls in ein anderes. Da die intermetallischen Moleküle weniger Raum einnehmen als die Reinmetalle, wird eben Platz für Hohlräume frei. Für die Langzeitzuverlässigkeit nicht gerade günstig. Je höher die Temperatur bei Gebrauch oder Lagerung, desto fleißiger wachsen Kirkendall-Hohlräume, eine Tatsache, die etwa bei Satelliten während der wiederholten Sonneneinstrahlung und Erwärmung eben nicht verhindert werden kann.

Abb. 1: Der oben abgebildete „Whisker“ aus Zinn wächst zwischen rein verzinnten Hakenanschlüssen eines elektromagnetischen Relais ähnlich MIL-R-6106 (LDC 8913) Abb. 1: Der oben abgebildete „Whisker“ aus Zinn wächst zwischen rein verzinnten Hakenanschlüssen eines elektromagnetischen Relais ähnlich MIL-R-6106 (LDC 8913) Bleihaltige (eutektisch formulierte) Lotbarren lassen sich recht leicht verbiegen, während bleifreie steifer und weniger geschmeidig sind. Ein weiterer Anlass zur Sorge, wenn Vibrationen oder mechanischen Schock befürchtet werden.

Für die Automobil-, Luft- und Raumfahrtindustrie zeichnet sich bei der Duktilität ein weiteres Problem ab, denn bleifreie Lotlegierungen verlieren spontan bei etwa -30 °C diese Eigenschaft völlig – eine Temperatur, die bei der Luftfahrt und im Weltraum oft erreicht wird.

Im Weltraum werden elektronische Produkte neben energiereicher Strahlung auch meist einem Vakuum ausgesetzt. Deswegen besteht die Forderung nach zerstörenden, zerstörungsfreien und beschleunigten Tests.

Es hat sich jedoch gezeigt, dass jene Tests, die man lange bei bleihaltigen Verbindungen (erfolgreich?) genutzt hat, nicht eins-zu-eins übertragbar sind. So stochert man derzeit noch in gewisser Weise im Nebel herum. Ersatz für die alten Testverfahren stehen noch immer aus.

Diese negativen Auswirkungen politischer Entscheidungen führen jedoch gelegentlich zu überraschenden Erkenntnissen. Forscher und Techniker haben sich überlegt, was man statt dieser zinnbasierenden Lote für Verbindungen einsetzen könnte, und eine der recht verblüffenden Möglichkeiten ist Kupfer [1]. Bekannt ist ja, dass sein Schmelzpunkt 1357,77 K (1084,62 °C) ist und es sich somit ungeeignet für das Löten andient.

Aber der Teufel ist ein Eichhörnchen, denn im ‚Advanced Technology Center der Lockheed Martin Corporation [2]' haben die Forscher ein nanotechnologiefähiges elektrisches Verbindungsmaterial auf Kupferbasis entwickelt, das bei etwa 200 °C verarbeitet werden kann.

Inzwischen ist man über eine Versuchsanordnung hinaus. Neben einer Pilotanlage in der Nanomaterial produziert wird, verfügt das Zentrum über eine voll funktionsfähige Nanokupfer-Montagelinie für die Prozessentwicklung mit den handelsüblichen Maschinenparkanlagen.

Untersuchungen an so gefertigten Produkten zeigen unter anderem, dass das geschmolzene Material eine Zugfestigkeit aufweist, die bereits im Bereich von weltraumgeeigneten Loten liegt.

Das so entwickelte lotähnliche Verbindungsmaterial auf Nanokupferbasis (Markenname CuantumFuse) hat willkommene Eigenschaften [3]. Außer der sehr günstigen Schmelztemperatur erwartet man Verbindungen, die bis zu zehnmal höhere elektrische und thermische Leitfähigkeit besitzen, wenn als Vergleich die derzeitigen bleifreien Lote herangezogen werden.

Abb. 2: Kirkendall-Löcher in mikroelektronischer VerbindungAbb. 2: Kirkendall-Löcher in mikroelektronischer Verbindung

Abb. 3: Produkte, die mit CuantumFuse gelötet wurdenAbb. 3: Produkte, die mit CuantumFuse gelötet wurden

Zum besseren Verständnis dieses eigentlich erstaunlichen Phänomens, muss man auf die Veränderung des Schmelzverhaltens in Abhängigkeit der Größe schauen.

Wenn die Abmessungen eines Materials kleiner werden und sogar in Richtung atomarer Größe abnehmen, reduziert sich die Schmelztemperatur. Bei Metallen mit Nanometerabmessungen kann dies eine Reduzierung von bis zu 100 K ergeben.

Bekannt ist dieses Verhalten besonders bei Nanopartikeln, die alle bei niedrigeren Temperaturen schmelzen als große Mengen desselben Materials. Der Grund für die Änderungen des Schmelzpunktes wird in dem viel größeren Verhältnis von Oberfläche zu Volumen gesehen. Das verändert die thermodynamischen und thermischen Eigenschaften drastisch.

Anforderungen, die auch im Raum stehen, um eine Verwendung in tatsächlichen Lötprozessen zu ermöglichen, schielen auf die Kosten. Da benötigt man günstige Synthesen für die Nanopartikel mit anschließender Oxidationsrobustheit und Wachstumsbeständigkeit bei Umgebungsbedingungen.

Laut Veröffentlichungen ergeben sich gute Verbindungen zu Cu, Ag, Au, ENIG, Sn/SAC. Die Pasten schmelzen zwischen 195 °C bis 240 ° C drucklos, und es bildet sich massives Kupfer aus, was unter anderem die gefürchteten ‚Whisker' eliminiert. Die fertige Verbindung ist ‚massives Kupfer'. Bei diesem erhöht sich dann wieder der Schmelzpunkt, was für eventuell anstehende Reparaturen eine Herausforderung sein wird.

Hervorzuheben ist vielleicht auch, dass Kupfer ‚preiswert' ist. Auf dem Weltmarkt ist es derzeit 75% billiger als Zinn, kostet 1/1000-stel des Silbers und 1/10.000-stel von Gold. Ob die gegenwärtig erhältlichen Pasten diesen Preisvorteil weitergeben, muss der Käufer abwarten.

Literatur:

Gary Delserro; Lead Free Solder Reliability Issues and Test Methods.
Barış Çal; Lead-Free Soldering Risks and Reliability Problems in Space Electronics; 3rd International Symposium on Multidisciplinary Studies and Innovative echnologies; October 10-11-12, 2019, Ankara, Turkey.
Alfred Zinn et al.; NanoCopper Based Solder-free Electronic Assembly Material; IPC proceedings.
Lockheed Martin; CuantumFuse, A Solder Paste Based on Pure Copper; Lockheed MartinMaterials ScienceNanotechnology; October 26, 2012.
K. SCHNABL et al.; Nanocopper Based Solder-Free Electronic Assembly; Journal of Electronic Materials; Vol. 43, No. 12, 2014.
https://static1.squarespace.com/static/5d2e508a028fb500010380ec/t/5d44bdd34cbc950001183210/1564786134008/Kuprion+CuantumFuse+Nanocopper+dispensable+and+stencil+printable+solder+pasteTDS+Rev01.pdf (Abruf: 21.12,2023).
https://nepp.nasa.gov/whisker/background/index.htm (Abruf: 21.12,2023).
Wolfgang H. Müller et al.; On the effect of Kirkendall voids on solder joint reliability; PAMM · Proc. Appl. Math. Mech. 7, (2007)

Referenzen:

[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Kirkendall_effect (Abruf: 21.12,2023).
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kupfer (Abruf: 21.12,2023).
[3] https://www.lockheedmartin.com/en-us/capabilities/space/atc.html (Abruf: 21.12,2023).
[4] Erfinder: Dr. Alfred Zinn

Prof. Armin Rahn

Zur Person

Prof. Rahn ist ein weltweit tätiger Berater in Fragen der Verbindungstechnologie. Sein Buch über ‚Spezielle Reflowprozesse‘ erschien beim Leuze Verlag. Er ist erreichbar unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, wohin auch Anfragen über In-Haus-Seminare gerichtet werden können.

Weitere Informationen

  • Jahr: 2024
  • Autoren: Prof. Armin Rahn

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